Essen. Pudding oder Joghurt, Rock oder Hose, das Kreuzchen in der Wahlkabine: Wenn wir wählen, wählt meistens die Emotion - auch wenn wir glauben, der Verstand gebe den Ausschlag. Sind wir Herr unserer Entscheidungen oder ist der freie Wille eine Illusion?
An dieser Stelle müsste eine ebenso kluge wie anschauliche Einführung ins Thema stehen: Eine Situation im Supermarkt, eine Frau sucht Jogurt aus. Ein Mann im Autohaus, zwischen Ferrari und Porsche. Eine heimliche Geliebte, die Ehen (ent-)scheidet. Eine richtig prima erste Szene also – aber welche?
Über 100 000 Mal hat der Mensch täglich die Wahl, behauptet die Wissenschaft; in dieser Flut taucht das Problem des vermurksten ersten Satzes ebenso unter wie das Kreuzchen in der Wahlkabine. Die meisten Wahlmöglichkeiten aber nehmen wir gar nicht erst wahr, im wahrsten Sinne. Denn nur 0,1 Prozent dessen, was das Gehirn treibt, wird uns bewusst. Unter die restlichen 99,9 Prozent fallen nicht nur nahezu automatische Abläufe – essen, rennen, schwimmen – sondern auch Entscheidungen, die wir vollkommen rational zu treffen glauben. Hirnforscher wissen: Das Sammeln und Sichten von Argumenten dafür und dagegen mag uns ein Gefühl der Sicherheit verleihen. Unser Gehirn aber bräuchte die Informationen gar nicht. Ihm reicht: das Gefühl.
Bereits 1979 behaupteten die Neurowissenschaftler Daniel Kahnemann und Amos Tversky, das Gehirn treffe Entscheidungen eher selten rational. 2002 wurden ihre Überlegungen mit dem Nobelpreis zur geltenden Lehrmeinung erhoben. In Deutschland ist der Neurobiologe Gerhard Roth einer der führenden Vertreter der Emotio-Wahl: „Unsere Entscheidungen sind immer emotional”, betont er. Und trotzdem Kopfsache. In der Großhirnrinde, einem Netzwerk aus Milliarden Nervenzellen, sitzen Verstand und Vernunft. Sie erfassen eine Situation, planen eine Handlung, überprüfen deren Folgen. Gefühle hingegen siedeln im limbischen System. Hier liegt das „emotionale Gedächtnis”, das neue Situationen aus Erfahrung einzuschätzen weiß. „Das limbisches System hat das erste und das letzte Wort”, formuliert Gerhard Roth: Es kontrolliert die Basalganglien – welche alle Handlungen beeinflussen, „bei denen wir das Gefühl haben, wir hätten sie gewollt.”
Neuro-Allensbach ist noch Utopie
Hören Supermarktkunden wahlweise französische Chansons oder bayrische Volksmusik, klingen in ihren Einkaufswagen wahlweise französische oder deutsche Weinflaschen. Der Witz: Die meisten Kunden erinnern nicht, überhaupt Musik vernommen zu haben. Bestimmen Probanden die Richtung von scheinbar willkürlich bewegten Punkten auf einem Computerschirm, machen sie umso weniger Fehler, je weniger sie über diese Richtungswahl nachdenken. Entscheiden Studienteilnehmer, ob sie mit der rechten oder der linken Hand einen Knopf betätigen, können Forscher bereits sieben Sekunden zuvor ihre Hirnaktivität verfolgen – und ihre Wahl voraussagen zu einem Prozentsatz, der deutlich über dem des Zufalls liegt.
Was würde ein Meinungsforscher geben für einen Hirnscan des Wahlvolkes, der die Frage „rechts oder links” beantwortet! Neuro-Allensbach ist jedoch (noch) Utopie. Neuromarketing aber gibt es, zumindest als Modewort. Liest man die Erkenntnisse der selbsternannten Experten im Kundenhirndurchleuchten, muss man ihnen (neben der Produktion von Luftschlössern) einen geheimen Einfluss auf die Wahlkampfstrategen unterstellen: Woher sonst hätten die Kandidaten wissen sollen, wie sie mit beruhigendem Plakatlächeln in unser „neurologisch relevantes Motivsystem der Balance, Stabilität und Geborgenheit” gelangen?
Tatsache bleibt: Je mehr Wahlfreiheit wir haben in unserer modernen, demokratischen Gesellschaft – desto fraglicher scheint der freie Wille. Sind wir gar keine Entscheider, wie man heute so modern sagt? Einig ist die Forschung sich bisher nur darin, dass die Idee des freien Willens das Menschenleben erst möglich macht. Selbst wenn sie Illusion sein sollte.