Essen. „Oh, das ist aber grün hier!“, staunen Besucher des Ruhrgebiets. Das Image des Reviers wandelt sich nur langsam. Und es muss noch grüner werden.

Vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und die Nazi-Jahre bis in die junge und pubertierende Bundesrepublik der 60er- und 70er-Jahre hinein war das Ruhrgebiet der produzierende Hinterhof des Landes. Hauptsache er funktionierte, da durfte es dort ruhig qualmen, stinken, dreckig sein. Zeitungsreporter aus Frankfurt und Berlin fuhren immer nur hin, um sich zu gruseln: Der Rauch, der Ruß, die 1000 Feuer, die Malocher, die Armut, das Elend.

Dass es all das gab, war ihnen erst aufgefallen, als der Energie liefernde Hinterhof plötzlich nicht mehr funktionierte, nachdem belgische und französische Soldaten ihn 1923 besetzt hatten – nicht zuletzt, weil die deutsche Armee im Ersten Weltkrieg die Energie-Hinterhöfe, die es in Frankreich und Belgien gab, geplündert und verheert hatte, um sie schließlich absaufen zu lassen. Verbrannte Erde unter Tage.

Das mit dem Grusel klappt noch immer

Der journalistische Schauder-Tourismus führte selbst Schreibgrößen wie Ernest Hemingway und Joseph Roth ins Ruhrgebiet, führte vierzehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch Heinrich Böll und den Kölner Fotografen Chargesheimer an die immer noch sichtbaren Narben der alliierten Bombardements, und er hält dann sogar bis in die Berliner Republik hinein an. Dafür kommen die Reporter inzwischen auch aus Hamburg und München. Man hat sogar die Qual der Wahl zwischen Gelsenkirchen und Duisburg, Marxloh oder Hochfeld. Das mit dem Grusel klappt noch immer.

Man kann dazu Erläuterungen wie „Spätfolgen des Strukturwandels“ oder „Schattenseiten der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit“ liefern – der Hinterhof ist wieder Hinterhof. Die Schlote qualmen nicht mehr; als bunt illuminierte Industriekultur liefern sie eher die Zuckerwatte zum Grusel über den menschen- und naturverachtenden Gigantismus von einst. Bisschen Grasnarbe auf dem Hinterhof. Aber Hinterhof bleibt Hinterhof. Nicht zuletzt im Bewusstsein derjenigen, die hier leben, arbeiten, lieben, hoffen und denken.

Dann lieber Kolonie, Kneipe und Kleingarten

Bis in die Fünfziger-Jahre hinein war das zumindest für Bergleute und Stahlarbeiter kein großes Problem: Sie hatten ja kaum Zeit, den Hof zu verlassen. Man interessierte sich wenig für die Welt draußen. Vielleicht aus Sorge, der Vergleich könnte einem das Hinterhofdasein madig machen. Dann lieber Kolonie, Kneipe, Kleingarten und dann und wann eine Große Ruhrländische Gartenbauausstellung. Danach begann eine Phase, in der die Ruhr-Menschen auswärts vom Drang befallen waren, die Fingernägel vorzuzeigen, um zu beweisen, dass kein Dreck mehr drunter war.

Meist murmelten sie „bei Düsseldorf“ oder „in der Nähe von Köln“, wenn sie gefragt wurden, wo sie denn herkämen. Dabei war allein Essen (1962: rund 750.000 Einwohner) schon deutlich größer als Düsseldorf (1962: 705.000). Der Zungenschlag und die oft umstandslose Ersetzung von Dativ durch Akkusativ oder andere grammatikalische Eigenheiten präzisierte ihre Ortsangabe zudem.

Das alte Bild vom Ruhrgebiet als „Kohlenpott“

In auffälliger Umkehr setzte sich der Stolz, die unverzichtbare Energie für das „Wirtschaftswunder“ geliefert zu haben, erst dann durch, als die Kohleförderung immer teurer, ihr Anteil am Energiemix immer geringer und die Halden immer höher wurden. Vielleicht waren es die beinahe in Dauerschleife demonstrierenden Bergarbeiter, die das alte Bild vom Ruhrgebiet als „Kohlenpott“ auch dann noch lebendig hielten, als sich die Zahl der Zechen längst halbiert hatte und Schacht um Schacht auf den Nullpunkt von 2018 zulief.

Der Begriff Ruhrgebiet kam überhaupt erst mit der Ruhrbesetzung von 1923 in die Welt. Der zentrale Stromproduzent hieß nicht von ungefähr Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk; der von Bismarck so abgekürzte „Langnam-Verein“, das 1871 von Industriellen gegründete Ruhr-Kartell hieß „Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und Westfalen“. Und noch bis in die fünfziger Jahre war eher vom „rheinisch-westfälischen Industriegebiet“ die Rede.

Verkehrsschild zwischen „Niederlande“ und „Ruhrgebiet“

Wie sich der Historiker Ulrich Herbert jüngst erinnerte, gab es in Duisburg mal ein Verkehrsschild, das auf der einen Seite in Richtung „Niederlande“ zeigte und in der anderen Richtung „Ruhrgebiet“. Der Begriff, so Herbert, sei ebenso abwertend gemeint gewesen wie „Kohlenpott“.

Der Anblick von Qualm und Rauch, von stahlabstich-rotgefärbten Himmeln, der beißende Schwefelgeruch von Kokereien, die rußgefärbten Hausfassaden, deren Anstrich nicht lohnte, der Husten der alten Bergleute und der Pseudo-Krupp der kleinen Kinder – all das, was anderswo für Alarmstimmung gesorgt hätte, war hier normal, war Alltag. Hinterhof eben. Den aufrechten Gang lernten die Revier-Menschen erst in dem Maße, in dem das Karbon-Zeitalter der Bundesrepublik Geschichte wurde und sie aus den Schächten wieder ans Tageslicht kamen.

Der Makel wurde zum Markenzeichen

Der Erfolg eines Jürgen von Manger als Adolf Tegtmeier begann und wuchs, als bei den ersten Zechen Schicht im Schacht war. Sein Vorläufer, der 1954 in der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“ eingeführte Kumpel Anton, führte ein Grundgesetz des Imagewandels vor Augen, indem er das, was zuvor zum Makel, zur Schwäche erklärt worden und längst als solche verinnerlicht war, mit Witz zum Markenzeichen eines grundsätzlich sympathischen Charakters machte; die akkurate Verschriftlichung ausgerechnet dessen, was als höchst falsches Deutsch galt, erzeugte jene Unangemessenheit, die zu den Grundbedingungen von Komik gehört.

Während Kumpel Anton als Bergarbeiter ganz bei sich blieb, fielen bei Adolf Tegtmeier die Ambition von gehobener Bürgerlichkeit und die reale kleinbürgerlich-proletarische Schlichtheit so weit auseinander, dass ziemlich viel bundesrepublikanisches Lachen dazwischenpasste. Und je weniger die Realität mit dem Ruhrgebiets-Klischee zu tun hatte, desto eher konnten die Leute im Revier stolz drauf sein. Früher waren sie es auf die geförderten Tonnagen und ihren Lohn - nun wurde, je weniger es stank und qualmte, die zunehmend stillgelegte Kulisse zum Markenzeichen unter der eigentlich paradoxen Chiffre „Industriekultur“.

Och, gar nicht mehr so richtig Hinterhof!

Im Kontrast zur vorherrschenden Farbe zwischen Frühjahr und Herbst, die dem Besuch von auswärts bis auf den heutigen Tag den einen Satz zwischen Enttäuschung und Überraschtsein entlockt, der den Einheimischen genau deshalb schon längst aus den Ohren herauskommt: „Oh, das ist aber grün hier!“ Heißt ja auch: Och, gar nicht mehr so richtig Hinterhof.

Und die Ambitionen gehen noch weiter: Das Revier, so hat es der Regionalverband Ruhr zum Ziel erhoben, soll „die grünste Industrieregion der Welt“ werden. Diese Ambition ist noch gespeist von der alten Tonnen-Ideologie, wonach viel immer gut ist und am meisten immer das Beste. Früher mischte sich die Verehrung der großen Zahl noch wohltuend mit der Hinterhof-Attitüde, den Pelz nach innen zu tragen, wenn man denn einen hatte. Heute schlägt sie nicht selten in eine gewisse Großmäuligkeit um.

Umdenken ist angesichts der Klimakrise eine Überlebensnotwendigkeit

Die nachträgliche Begrünung der Innenstädte, das Setzen auf „grünen“ Wasserstoff zur Stahlproduktion ist dabei nicht philanthropisch, sondern angesichts der Klimakrise eine Überlebensnotwendigkeit. Zumal die größte CO2-Schleuder Deutschlands im Duisburger Norden steht, das Stahlwerk von Thyssenkrupp. Die zweitgrößte steht übrigens im Duisburger Süden, es ist das HKM-Stahlwerk. Und unter den zehn größten CO2-Emittenden Deutschlands sind weitere drei Kraft- und Stahlwerke in Duisburg.

Die ausgebrochene Eile ist auch dringend geboten. Sonst kommt noch jemand auf die Idee, dem Ruhrgebiet mit Abermilliarden Tonnen freigesetzten Kohlendioxids hier und in ganz Deutschland seinen Anteil am menschengemachten Klimawandel vorzurechnen.

Man müsste sich in die hinterste Ecke des begrünten Hinterhofs stellen.

Dieser Text ist erschienen in dem Sammelband „Ruhrgebiet. Über uns“ der sich der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Ruhrgebiets aus verschiedensten Perspektiven widmet. Mit Beiträgen u.a. von Ludger Claßen, Hartmut Kasper, Markus Günther, Ulrike Geffert, Stefan Laurin, Sabine Herrmann, Lothar Gräfingholt, Hendrik Groth, Margit Kruse, Gerd Herholz, Ulrich Straeter, Werner Bergmann, Christian Stratmann und Joachim Wittkowski. Erschienen im Verlag Henselowsky Boschmann, 208 Seiten, 19,80 Euro.