Mülheim. Im neuen Stück des Theaters an der Ruhr spielt die im Mai gestorbene Simone Thoma mit – vom Band, im Film. Selten hat Theater so berührt.

Roberto Ciulli macht seit über vier Jahrzehnten mit seinen Inszenierungen den Kern des

Steffen Reuber (li.) und Bernhard Glose (Antonin Artaud).
Steffen Reuber (li.) und Bernhard Glose (Antonin Artaud). © FFs | Martin Möller

Theaters an der Ruhr aus, auch wenn sich diese besondere Bühne über all die Jahre hinweg den Geist eines Kollektivs bewahrt hat. Mit zeitweise fünf Inszenierungen pro Jahr blieb er stets der Regie-Erste unter Gleichen. Und wer auch immer sich im Haus am Mülheimer Raffelbergpark vorstellen durfte, um seine Nachfolge anzutreten, genügte nur selten den von Ciulli nicht unbedingt formulierten, aber in seinen Inszenierungen gesetzten Maßstäben.

Kaum jemand kann derart dichte, fantasierende, surreale Bilder für die Bühne schaffen, die mit Sprache, Musik und Gesten, mit Requisiten, Licht und Einfällen um Einfällen der Welt draußen vor der Tür eine entgegensetzen. In ihr sind Festlichkeit und Kritik an den Verhältnissen miteinander vermählt, Genie und Ver-Rücktheit, Utopie und Ekstase.

In Antonin Artaud ist viel Roberto Ciulli wiederzuerkennen

So passt das neue Werk des 89-jährigen Altmeisters „Ich, Antonin Artaud – Le Mômo“ wie kaum ein anderes in die neue En-Suite-Spielzeit des Theaters an der Ruhr, das sich ja dem Rausch in allen erdenklichen Formen widmet. Diese 90 Minuten sind wie eine Essenz des Ciulli-Theaters. Artaud (1896-1946), der sich selber „Mômo“, das närrische Kind nannte, hat in seinen Schriften zum Theater, das ihm nicht anders denn als Gesamtkunstwerk denkbar war, viel von dem vorweggenommen, was Ciulli in die Tat umsetzt.

Artaud, heroin- und opiumsüchtig, jahrelang in der Psychiatrie mit Elektroschock- und anderen Therapien gefoltert, formulierte mit seinem oft missverstandenem „Theater der Grausamkeit“ die Vorstellung, dass Bühnenarbeiten nicht die Realität abbilden, sondern ihr eine Wirklichkeit eigenen Rechts entgegensetzen, die mit allen Mitteln der Künste arbeitet, unter denen Sprache nur eines von vielen ist. Als Mensch, als historische Figur wird er zur tragischen Verkörperung vieler Erkenntnisse Michel Foucaults („Die Macht der Psychiatrie“).

Ein eindringlicher Bericht über die Grausamkeiten der spanischen Eroberer an den Indios

Bernhard Glose als Artaud.
Bernhard Glose als Artaud. © FFs | Martin Möller

Zunächst aber findet sich das Publikum in Ciullis neuer Inszenierung in einem wort-wörtlich zu verstehenden Theater der Grausamkeit wieder: Steffen Reuber zitiert als Bartolomé de Las Casas (mit napoleonischem Dreispitz) aus dem 1542 verfassten Bericht des ersten Bischofs im mexikanischen Chiapas über die bestialischen Torturen, mit denen die „Indios“ genannten Ureinwohner von den spanischen Eroberern gequält und ermordet wurden. Man möchte, dass es endlich aufhört, man möchte keine Bilder mehr vor Augen haben und sich die Ohren zuhalten – und weiß doch, dass das Leid der Opfer wenigstens diese Würdigung verdient hat.

„Ich hasse und verachte als Feigling jedes Wesen, das hinnimmt, zu leben, ohne sich vorher erneuert zu haben“ – Artaud (absolut passgenau, angemessen exaltiert und doch ungemein intensiv: Bernhard Glose) ist schon in der Anstalt, als er diesen Satz spricht wie ein Mantra. Und noch jemand spricht ihn, spricht viele Artaud-Sätze, ist aber nur vom Tonband zu hören oder im Film zu sehen, und doch berührt es zutiefst: Wer Simone Thoma, die im Mai dieses Jahres mit nur 56 Jahren gestorbene Schauspielerin und Regisseurin, ewig und drei Tage im Ensemble des Theaters, in ihrer allerletzten Rolle sieht und hört, wird das kaum anders erleben können als mit Wehmut. Simone Thoma, die um ihre Nähe zum Tod wusste, wollte dieses Vermächtnis, sie war Bühnenmensch mit jeder Faser.

Am Ende sitzt Antonin Artaud bezaubert vom Klangkonzert des Urwalds

Drumherum sind so manche vertraute Ingredienzen des Ciulli-Zaubers versammelt: Blitzartig erleuchtete Drähte, furiose Musik, Schattentheater, Gewitter, Stühle. Dazu Fragmente aus Artauds Biografie wie seine Reise nach Mexiko zu den Tarahumara-Indigenen, wo er Heroin durch den Kaktus-Extrakt Peyote ersetzte und damit Rausch-Erfahrungen macht, die ihn eins werden ließen mit der Welt. Und das ist auch das Schlussbild: Artaud sitzt da und lauscht dem Klangkonzert des Urwalds. Der Applaus gilt Steffen Reuber, Bernhard Glose und einem schlagartig erleuchteten Stuhl. Er ist leer.

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Weitere Aufführungen am 7. und 8. September. Das Stück soll allerdings im November beim nächsten En-Suite-Block des Theaters an der Ruhr noch einmal aufgenommen werden. Karten/Info: www.theater-an-der-ruhr.de