Essen. Barbusiges „Tutti Frutti“, ein bröckelnder Warschauer Pakt, Tatoos und Handys boomen: Jens Balzer erzählt von der Kultur der 1990er Jahre

Nachdem am 9. November 1989 die Mauer gefallen war, schien nichts mehr auf ewig festgeschrieben, die Geschichte war offen – und der Werbespruch, mit dem Toyota ab 1992 sein verkorkstes Image abstreifte, kann als Motto für dieses Jahrzehnt dienen: „Nichts ist unmöglich!“ Es galt zumal für die Sender des Privatfernsehens, die auf Teufel komm raus Quote machten, mit Hugo Egon Balders Busenentblößungsshow „Tutti Frutti“ als „erotischem Mauerfall“ vorneweg. In der Quotenkonkurrenz durchlöcherten RTL & Co. den einstigen Bildungsanspruch des Fernsehens auch bei Öffentlich-Rechtlichen.

Das Leben wurde offener, freier in den Neunzigern, die der Popkultur-Fachmann Jens Balzer in seinem neuen Buch „No Limit“ mit dem Mauerfall 1989 beginnen und mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 enden lässt. In der großen Umarmung von West und Ost auf der Mauer zeigte sich an Sauerkraut-Frisuren und „Stone-washed Jeans“ (im Westen waren sie fast „out“, im Osten als „Marmor-“ oder „Schimmel-Jeans“ noch Protestkultur), dass die Unterschiede in der Alltagskultur hüben und drüben nicht so groß waren, nur zeitverzögert. Nur dass die einen über die Bananisierung des Alltags durch „Zonen-Gabi“ und ihre Gurke als „Titanic“-Satire lachen konnten – und die anderen ahnen mochten, was da an Verachtung und Ignoranz noch auf sie zukam.

Die Neunziger: Robbie Williams und Spice Girls, Systeme stürzen, Deutschland geeint

Der Rausch der Befreiung und des Fortschritts spült auch das Wissen um die ökologische Gefährdung des Planeten für lange Zeit hinweg, Verzicht ist out. Die Idee des Westens triumphiert, die Geschichte schreitet mit Siebenmeilenstiefeln voran. Die UdSSR zerbröselt wie der Warschauer Pakt, ein Land nach dem anderen erlebt seine demokratische Revolution, unantastbare Diktatoren werden fortgejagt oder standrechtlich erschossen. Deutschland wurde vereint – und öffnete sich, um Franzosen wie Briten zu beruhigen, mehr denn je der europäischen Einigung. Opferte dafür am Ende des Jahrzehnts sogar seine heiß geliebte D-Mark.

Grenzen, Limitierungen, ja Verbote und für eisern gehaltenen Regeln schmolzen in der Hitze des Tempos dahin. Der Techno mit seiner gleichförmig textlosen Musik, seinen monotonen Beats wurde zum „Soundtrack der Wiedervereinigung und des „Urlaubs von der Geschichte“, gestützt von der neuen Modedroge Ecstasy, die auch die Grenzen der körperlichen Belastbarkeit aufzuheben scheint. Die „Love Parade“ in Berlin wurde vom Untergrund- zum Millionenereignis des Konzernkapitalismus. Töne vom Rand lieferte der im Osten erstarkende Rechtsrock, im Westen der von „Gastarbeita“-Kindern vorangetriebene Hip­Hop.

Die 90er: „Pulp Fiction“ und die „Simpsons“, „Grunge Rock“ und „Spice Girls“

Postmoderne bedeutete, dass alles schon mal da war und neu collagiert wurde. Von „Pulp Fiction“ bis zu den Simpsons als Durchdringung von Trash-, Pop- und Avantgarde-Kultur. Von Robbie Williams als Mittelschichtmann mit Proleten-Attitüde bis zu den Spice Girls als neoliberaler Verkörperung weiblicher Emanzipation: überall geplünderte Archive und Zitate. Auf der anderen Seite beim Grunge-Rock eine umfassende Verlangsamung im rundum angewiderten Herumhängen. Im Osten wiederum konnte sich in Freizonen der Umbrüche eine spontane Partykultur in richtungsloser Anarchie breitmachen. Das machte Berlin attraktiv für Künstler, wie seine Insellage in den 80ern.

Zunehmend ging es nun um Unterscheidungs-Merkmale, die der Haut eingeschrieben wurden, als erotiksteigerndes Kunstwerk: Tattoos und Piercings. Neben der mit Implantaten zur Strand-Traumfrau hergerichteten „Baywatch“-Queen Pamela Anderson wurden Körper auch so als individuelle Machtmittel installiert, wo die Machtlosigkeit der Einzelnen immer mehr zu wachsen schien. Die Chirurgie setzte in der Realität neue Normen, während sie im TV mit dem George-Clooney-bestückten „Emer­gency Room“ zu medialer Prominenz gelangte.

Mannesmann und Vodafone: Das Jahrzehnt der Kommunikation

Das Telefon aber wurde zum Motor des Jahrzehntes. Erst löscht der Anrufbeantworter die Überraschung beim Abheben des Hörers vom displaylosen Telefon. Dann werden Mobiltelefone erschwinglich, die nur in Deutschland „Handy“ heißen, meist aber Motorola, Ericsson, Nokia oder Siemens. Es wird die entscheidende Revolution des Jahrzehnts, an dessen Ende die Übernahmeschlacht zwischen Mannesmann und Vodafone tobt. Auch die Grenzen der Kommunikation geraten ins Schwimmen, sie wird endlos. Dauerkommunizieren ist Statussymbol, der junge Max Raabe landet einen Hit mit „Kein Schwein ruft mich an“.

Weltweite Vernetzung und wegweisendes Kino wie „Matrix“ und „Jurassic Park“

Am Ende des Jahrzehnts steht die weltweite Vernetzung von Menschen und Lebenswelten, die bis dato nichts voneinander wussten. Zumal auch das „Word Wide Web“ in den Alltag vordringt. Was Computer können, hatte zu Beginn der 90er Steven Spielbergs „Jurassic Park“ gezeigt, in dem sich animierte Dinosaurier ungeahnt echt zu bewegen schienen. Am Ende sollte der Kino-Erfolg „Matrix“ das Gefühl ins Bild setzen, dass da eine Parallelwelt heraufdämmerte. Die immense Beschleunigung des Lebens, die Handy und PC da brachten, war allerdings nur der Anfang…

No Limits: Mit den Grenzen schwanden auch die Gewissheiten. Je mehr wichtige staatliche Schaltstellen nun privatisiert wurden, desto mehr droht der politische Kontrollverlust. Mit der Fatwa gegen Salman Rushdie angedeutet, dass es weltweit wieder gefährlich werden könnte, wenn Individualitäten in „religiösen, ethnischen, nationalistischen Kollektiven“ aufgehen, so Balzer. In Jugoslawien entstand daraus der erste europäische Krieg seit Jahrzehnten. Am Ende waren allerorten „die Utopien des Neuanfangs am Zwang zur Anpassung an neue Verhältnisse zerschellt.

Jens Balzer. No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. Rowohlt Berlin. 384 S., 28 €