Ganz anders, sehr risikobereit: Demis Volpi deutet am Rhein den Klassiker „Giselle“ unter queeren Vorzeichen. Ein Abend mit Licht und Schatten.

Düsseldorf. Giselle – eines der meist gespielten Ballette – wird nach 180 Jahren auch an der Rheinoper neu gedeutet. Und zwar queer. Für Chefchoreograph Demis Volpi geht es nicht länger um die unerfüllt tragische Liebe zwischen dem Bauernmädchen Giselle und dem Prinzen Albrecht. Er macht für das Ballett am Rhein aus dem Klassiker schwerelos ätherischen Spitzentanzes eine anrührende, bodennahe Lovestory zwischen zwei Frauen.

Da treffen zufällig Albrecht und seine Verlobte Bathilde auf Giselle – von Beruf Ballerina - nach einer Ballett-Aufführung. Plötzlich und unerwartet entflammt zwischen den Kulissen eine leidenschaftliche Tanz-Liebe zwischen den ungleichen Frauen. Bathilde mutiert zur Hauptfigur, Albrecht zu einer Randerscheinung, der nur in einem kurzen Pas-de-trois Profil erhält.

Die zarte, schüchterne Annäherung der Frauen zwischen Parkbank und Fachwerkhaus (Bühne: Heike Scheele) wird jäh durch das reale Leben beendet: Standesbewusst entscheidet sich Bathilde für Albrecht. Giselle bleibt zurück. Stirbt nicht, sondern steckt suchend ihren Kopf aus dem geschlossenen Bühnenvorhang heraus.

„Giselle“ am Rhein, es gab auch Buh-Rufe für Ballettchef Demis Volpi

So zumindest endet der erste Teil von Volpis ‚Giselle‘ im Opernhaus Düsseldorf: Danach wurden die starken Protagonisten Futaba Ishizaki (Giselle), Doris Becker (Bathilde) und Daniele Bonelli (Albrecht) gefeiert. Bewundernswert, wie selbstverständlich die Frauen die spärliche Ballett-Virtuosität mit emotionalem Ausdrucksspiel vereinen, das in einer filmreifen Kuss-Szene aus Alt-Hollywood gipfelt. Regisseur Volpi aber spaltet das Publikum: So hagelten (erstmals in seiner Rheinopern-Zeit) lautstarke Buhrufe auf den Mann nieder, der 2024 in Hamburg den magischen Ballett-Erzähler John Neumeier beerben soll.Die aufgeheizten Buh-Rufer nahmen kaum Anstoß an der ‚queeren‘ Giselle. Das regt heute selbst Traditionalisten nicht mehr auf. Zumal die Annäherungen von Giselle und Bathilde harmlos und jugendfrei über die Rampe kommen. Meist in stereotypen Bewegungen angedeutet. Die Schwäche, wie bei vielen Volpi-Arbeiten, ist die Choreographie: Er bremst seine Tänzer bewusst aus, verlangt von ihnen überwiegend Pantomime. Keine Chance haben bei Volpi innovative Ballett-Brillanz oder akademische Perfektion. Er überzeugt nicht als Choreograph, sondern als musikalischer Regisseur.

Zweiter Akt von Giselle an der Rheinoper wird zäh

Zu einer zähen Angelegenheit gerät daher der zweite Akt (sonst der Inbegriff weißer Ballett-Magie) im Reich der Schatten und Wälder. Dort herrschen Geisterfrauen (die vor ihrer Hochzeit gestorben sind), genannt die ‚Willis‘. 1841 widmete Heinrich Heine dieser Mischung aus Meerjungfern und Nymphen einige Verse, aus denen die Librettisten Théophile Gautier und Henri de Vernoy de Saint-Georges die bekannte Ballett-Handlung strickten. Bis heute nutzen weltweit Primaballerinen diese Rolle, um höchste technische Bravour zu demonstrieren. Endlos-Balancen und luftige Pas-de-deux gibt’s aber hier nicht. Bei Volpi tanzen Giselle und Bathilde erdig, am Boden haftend, in synchronen Bewegungen, aber ohne schwingende Hebefiguren, die in der strömenden Komposition von Adolphe Adam angelegt sind.

Die Willis sind bei Volpi keine Luftwesen, sondern geschlechtsneutrale Wesen mit zerzausten Haaren in wadenlangen Tutus, die nur mühsam von der Stelle kommen. Eine Gruppe aus kräftigen Männern und feingliedrigen Ballerinen schweben nicht, sondern kriechen matt über den Boden, schleppen sich, wanken kurz aufrecht, bis sie wieder ins Erdreich versinken. Wie Nornen, aber nicht wie Willis. Fazit: Wenig Ballettzauber in einer schön erzählten queeren Romanze. Wer „Giselle“ als entstaubtes Original und Schwerelosigkeit erleben will, sollte eher ein Ticket im Essener Aalto-Theater kaufen. (17., 20., 24. Juni, Düsseldorf, ab September in Duisburg. www.operamrhein.de)