Essen. Meron Mendel sieht 80 Millionen deutsche Nahost-Experten, aber kaum einer kennt die Lage. Sein Buch und Richard C. Schneider schaffen Abhilfe.
„Fünf Fragen zu einem komplizierten Land“ stellt der langjährige Israel-Korrespondent der ARD Richard C. Schneider in seinem neuen Buch – ob Israel, das in wenigen Wochen, am 14. Mai, das 75-jährige Jubiläum seiner Staatsgründung feiern kann, eine Demokratie ist, ein Apartheidsstaat und fundamentalistisch, ob Kritik an dem Land antisemitisch ist und Palästina den Palästinensern gehört. Und keine dieser Fragen lässt sich mit einem „Ja“ oder „Nein“ beantworten, ohne das zwingend ein „Aber“ dazugehört.
Wie bedroht etwa der noch eindeutige demokratische Charakter des Staates ist, war zuletzt am Bemühen der aktuellen Netanjahu-Regierung zu verfolgen, den Obersten Gerichtshof des Landes zu entmachten. Schwarz-Weiß-Urteile aber verbieten sich schon seit die Situation Israels und der Palästinenser seit der Ermordung Itzak Rabins im November 1995 unaufhörlich weiter eskaliert ist – nicht zuletzt, weil beide Seiten sich im Besitz der allein gültigen Wahrheit wähnen.
Richard C. Schneider: Es geht ein tiefer Riss durch Israel
Auch der Riss, der durch die Gesellschaft des jüdischen Staates selbst geht, ist immer breiter geworden. Hier die europa-orientierten Säkularen Modernisten, dort die ultrakonservativen Anhänger der messianisch-religiösen Siedler-Bewegung, deren Landnahme in den besetzten Gebieten regierungsseitig toleriert wird und Fakten schafft: „Die Wahrscheinlichkeit, dass es eines Tages doch noch eine Zwei-Staaten-Lösung geben könnte, schwindet mit jedem neuen Ziegelstein, der im Westjordanland verbaut wird.“
Schneiders differenzierter Rundumblick, der bis in die Vorgeschichte Israels seit Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreicht, lässt wenig Illusionen übrig – die Wurzeln des Konflikts reichen tief, sind jahrzehntealt. Und: Von den Mächtigen auf beiden Seiten hat heute niemand ein Interesse, etwas gegen die Konfrontation zu unternehmen, sie alle leben geradezu davon.
Meron Mendel: Deutsche sind leidenschaftliche Unterstützer, haben aber keine Ahnung
Auch Meron Mendel beurteilt die Lage in seinem Buch „Über Israel reden“ kaum anders, appelliert aber am Schluss trotzdem, die Friedensarbeit in den Mittelpunkt der deutsch-israelischen Beziehung zu stellen, also „die Frage, wie wir in Deutschland Israelis und Palästinensern helfen können, ohne den Brandstiftern auf beiden Seiten in die Hände zu spielen.“
Meron Mendel geriet in der Debatte um die antisemitischen Werke auf der Documenta 15 ins Scheinwerferlicht. Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt lieferte die sachkundigsten, genauesten Einschätzungen – weil er differenzierte zwischen den klar antisemitschen Werken der Kunstschau und den übrigen, die ein sinnhaftes, nachvollziehbares Anliegen vertraten. Dass er seinen Job als Berater schon nach gut zwei Wochen wieder schmiss, weil die Kuratorengruppe Ruangrupa nicht bereit war, sich inhaltlich mit berechtigten Antisemitismus-Vorwürfen auseinanderzusetzen, war ein Paukenschlag. Zeigte aber auch die klare Kante des Meron Mendel, der in Israel als Linker und Friedensaktivist aufgewachsen ist und mit seiner muslimischen Frau Saba-Nur Cheema in der „Frankfurter Allgemeinen“ die Kolumne „Muslimisch-jüdisches Abendbrot“ schreibt.
Achille Mbembe und der Ruhrtriennale-Skandal
Heute sieht Mendel klarer denn je, dass es in der Documenta-Debatte eigentlich nicht um Antisemitismus ging, sondern um den Streitpunkt Israel. Zunächst aber schmunzelt er in seinem Buch über „80 Millionen Nahostexperten“: „Die leidenschaftlichsten Unterstützer der israelischen und der palästinensischen Sache leben in Deutschland – aber die meisten von ihnen haben nicht die leiseste Ahnung von der Situation vor Ort.“
Da schafft sein Buch Abhilfe, wenn auch nicht so detailliert wie das von Schneider. Dafür zeichnet der leidenschaftliche Diskutierer und Kompromiss-Sucher Mendel die Seltsamkeiten, strategischen Implikationen und psychologischen Funktionen deutscher Einstellungen zu Israel seit dem Zweiten Weltkrieg kundig und mit analytischem Scharfblick nach. Und einen so kühlen, sachlichen, lösungsorientierten Blick auf die anti-israelische Boykott-Bewegung BDS und den Skandal um Achille Mbembe als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale hätte man sich bei allen gewünscht, die darüber debattiert haben.
Richard C. Schneider: Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land. DVA, 192 S., 22 €.
Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte. Kiepenheuer & Witsch, 216 S., 22 €.
Beide Autoren sind zu Gast in der „Lesart“ des Deutschlandfunkskultur im Essener Grillo-Theater am Dienstag, 27. April, 20 Uhr. Karten (Theater oder Buchhandlung Proust): 8 €.