Essen. „72 Seasons“ ist selbst für Metallica-Freunde unerwartet harter Stoff. Gitarrist Kirk Hammett erzählt, warum das elfte Album so klingt.

Warum „72 Seasons“, das neue und elfte Studioalbum der US-amerikanischen Heavy-Metal-Heroen Metallica selbst für ihre Verhältnisse von überwältigendem Interesse flankiert wird, muss Kirk Hammett einen Moment in sich gehen. Der Gitarrist meldet sich ganz klassisch am Telefon aus Hawaii, seinem Hauptwohnsitz, um über die neue Platte zu sprechen, und er bietet nach kurzer Bedenkzeit zwei Theorien an. Die erste: „Die neuen Songs sind einfach besonders geil“. Kann man nichts gegen sagen. Bei den allermeisten Fans kamen schon die vier Vorab-Singles, angefangen Ende vergangenen Jahres mit „Lux Ǽterna“, hervorragend an. „Wir machen unsere Musik nicht für die Fans“, so Hammett, „aber es spornt uns natürlich an, wenn sie unser Zeug lieben.“

Der zweite Grund für den neuerlichen späten Boom 42 Jahre nach Bandgründung in Kalifornien ist etwas komplexer: „Wir treffen mit unserer Musik gerade wieder so richtig den Zeitgeist“, glaubt Hammett. Musikalisch mache man auf „72 Seasons“ ja nichts grundlegend anders als auf den beiden Vorgängern „Death Magnetic“ (2008) und „Hardwired…To Self-Destruct“ (2016), „aber uns ist keinesfalls entgangen, dass die Leute mit mehr Begeisterung auf unsere neuen Songs reagieren als auf alles, was wir die letzten zwanzig Jahre oder noch länger gemacht haben. Es mag wohl wirklich so sein, dass Zeiten wie diese wie geschaffen sind für Musik wie unsere.“

Kirk Hammett, der Sechzigjährige, der auf das Surfbrett sprang

Harte Songs für eine harte Welt. Seit 2016 sei ja kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Als „Hardwired“ rauskam, hieß der amerikanische Präsident noch Barack Obama, Greta Thunberg war noch eine gewöhnliche schwedische Schülerin, Rassismus und Polizeigewalt fanden noch nicht die überfällige Beachtung, die sie durch den Mord an George Floyd und die Black-Lives-Matter-Bewegung erlangten, chinesische Wildtiermärkte waren den meisten gleichgültig, und Wladimir Putin galt bloß als ein Undemokrat von vielen. „Wut und Frust haben sich bei vielen Menschen angestaut“, so der sechzig Jahre alte aber nicht wie ein Sechzigjähriger aussehende Surfer und Yogi Hammett, „und sie suchen nach einer Band, mit deren Musik sie ihren ganzen Ärger in konstruktive Energie umwandeln können.“

Weitere Indizien für die Metallica-ist-wieder-richtig-angesagt-Theorie: „Enter Sandman“, einer ihrer auch bei einem Mainstream-Publikum beliebtesten Songs, erreichte kürzlich die immer noch magische Marke von einer Milliarde Streams auf Spotify. Und „Master Of Puppets“, der Titelsong jenes 1986 veröffentlichten Albums, das bis heute als Meilenstein des Metal gilt, spielt in einer Schlüsselszene der aktuellen „Stranger Things“-Staffel eine ähnlich entscheidende Rolle wie an anderer Stelle der Serie Kate Bushs „Running Up That Hill“.

Metallica war von Corona zunächst wie betäubt

„Mit unserer Musik erreichen wir die Menschen an ihrer Wurzel“, glaubt Kirk Hammett an die verbindende und das Wohlbefinden steigernde Kraft seines Schaffens, „und helfen ihnen zu erkennen, dass das Leben schön ist.“ Es bedeutet dem Gitarristen extrem viel, „dass wir mit unserer Musik allen, die das brauchen, einen Rettungsring zuwerfen.“

Zu diesen Personen zählen nicht zuletzt die vier Musiker selbst. Auch Metallica litt unter den Begleiterscheinungen der Pandemie. Kirk Hammett (60), Sänger James Hetfield (59), Schlagzeuger Lars Ulrich (59) und Bassist Rob Trujillo (58) saßen zunächst untätig und unschlüssig herum, bis sie sich regelmäßig per Zoom zum Ideenaustausch verabredeten und erste Songgerüste erarbeiteten, die ab Ende 2020 mit Stammproduzent Greg Fidelman im heimischen Studio nahe San Francisco zu jenen 77 Minuten ausgewalzt wurden, die sie einem nun auf „72 Seasons“ genussvoll um die Ohren hauen. Nach Besinnlichem war ihnen dabei nicht zumute. Ein Brett jagt das nächste, keine einzige Ballade, zum Durchatmen ist diese Platte nicht konzipiert. „Irgendwann fragte uns unser Produzent, ob wir denn überhaupt keine Ideen für ruhige Stücke hätten“, erinnert sich Hammett schmunzelnd. „Tatsächlich war alles, was wir schrieben, fucking heavy“, verdammt hart. Nur zwei der zwölf Songs sind kürzer als fünf Minuten, am Schluss donnert „Inamorata“ ganze elf Minuten und zehn Sekunden in die Ohren.

„72 Seasons“ – das sind die Jahreszeiten bis zum 18. Geburtstag

„72 Seasons“ ist ein immens dicht gewebter Teppich aus Musik, an Intensität schwer zu übertreffen und absolut ungeeignet zum beiläufigen Konsum. Lyrisch durchdrungen von den ersten 72 Jahreszeiten des Lebens – also der Zeit bis zum 18. Geburtstag, die bei Hammett wie Hetfield gleichermaßen durch Armut und frühe Erfahrungen mit Drogen und Kleinkriminalität geprägt gewesen sei, während Ulrich als Sohn eines dänischen Tennisprofis Einsamkeit eher im goldenen Käfig erlebte.

James Hetfield und seine Dämonen

So heftig wie lange nicht kämpft Frontmann James Hetfield, der sich 2019 nach einem Alkoholrückfall stationär behandeln ließ und im Sommer 2022 die Scheidung von seiner langjährigen Ehefrau einreichte, mit seinen Dämonen, den Abgründen des Lebens, seiner Verzweiflung, seiner Wut und seinen Ängsten. Man möchte den mental gebeutelten Sänger wahlweise tröstend in den Arm nehmen oder ihn mit einem sanften Klaps darauf hinweisen, dass doch alles gar nicht so schlimm ist, wie er es sich in hoffnungs- und lichtlosen Songs wie „Chasing Light“ oder „Crown Of Barbed Wire“ zusammendystopiert. „Selbstverständlich haben unsere Songs für James einen therapeutischen Nutzen“, sagt Kollege Kirk Hammett, „sie helfen und allen, unser Bewusstsein für herausfordernde Situation zu erkennen und ganz generell das Leben so gut zu meistern, wie wir können.“

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Bei ihrer bevorstehenden Tournee verspricht die Band, bei den zwei Shows pro Stadt jeweils komplett unterschiedliche Songs zu spielen. Weil, so Hammett, „wir das können“. 26. und 28. Mai, Hamburg, Volkspark-Stadion, 24. und 26. Mai 2024 München, Olympiastadion