Berlin. Herbert Grönemeyer präsentiert sein sechzehntes Studioalbum „Das ist los“ bestens gelaunt an Schmorrind und Pilz-Raviolo mit Szechuan-Jus.

Mittwochabend im ehemaligen Frauengefängnis. Das imposante Gebäude mit dem achtzehn Meter hohen Atrium, 1896 an der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg erbaut und nach zehn Jahren Sanierung nun seit April 2022 als Luxus-Boutique-Hotel Wilmina in zeitgemäßer Pracht (Lap-Pool!) wiederauferstanden, ist Schauplatz eines Rituals. Immer, wenn Herbert Grönemeyer ein neues Album veröffentlicht, also alle vier, fünf Jahre, lädt er die Medienmenschen in ein gerade angesagtes Etablissement ein, um sein neues Werk und auch ein bisschen sich selbst zu präsentieren.

2014 bei „Dauernd jetzt“ gab es mediumrohe Steaks im „Grill Royal“. Lange her. Das neue Album „Das ist los“ hören die Journalistinnen und Journalisten zwischen dem Gruß aus der Küche und der Vorspeise (ein exquisites Grüntomatenschäumchen mit Jalapeňos) des von Küchenchefin Sophia Rudolph ersonnenen Menus im „vegan-freundlichen“, sehr backsteinigen, schön fernab der Straße verborgenen und mit hunderten von Hängeleuchten sternenhimmelgleich illuminierten, Hotelrestaurant Lovis. Für viele der Höhepunkt des Essens ist gleichwohl die, sorry liebe Tiernahrungsverzichtende, butterweich geschmorten Rinderschulter mit Spitzkohl. Auch die Weine sind sehr erlesen.

Als hätte Herbert Grönemeyer Federn in den Schuhen

Irgendwann zwischen den Gängen bewegt sich Herbert Grönemeyer fast hüpfenden Schrittes und so, als hätte er kleine Federn in den Schuhen, an ein Tischchen, um ein bisschen Auskunft zu geben über seine neuen Lieder, über die Weltlage, über seine eigene Befindlichkeit – was bei Deutschlands seit Jahrzehnten erfolgreichstem Musiker ja im Allgemeinen und auf „Das ist los“ im Besonderen untrennbar miteinander vermengt ist.

Grönemeyer, ganz in Schwarz gekleidet und jünger wirkend als die 67 Lebensjahre, die er am 12. April vollendet haben wird, wirkt veritabel glücksgeküsst. „Dass man Musik machen kann in diesen komplexen Zeiten“, sagt der Ex-Bochumer, zeitweilige Wahllondoner und heutige Wahlberliner, „das ist irre schön. Musik ist ein Rückzugsort für einen selber.“ Mit seinem Stammproduzenten Alex Silva habe er 2021 in einer zum Studio umgebauten Scheune in Umbrien mit der Arbeit begonnen, fachfraulich bekocht von Lorena Autuori. Als Beifang jener Zeit wird parallel zum Album das Kochbuch „fatto a mano“ mit handverlesenen Lorena-Rezepten veröffentlicht, „ein kleiner Spaß“, so Grönemeyer. Anschließend setzte das Duo die Arbeit in Visby auf der schwedischen Insel Gotland fort, und dort habe er dann hautnah mitbekommen, wie das Unheil heraufzog und die Schweden mehr und mehr Kriegsschiffe um die strategisch wichtige Ostseeinsel zusammenzogen.

Grönemeyer: „Wie Blagen auf dem Fußballplatz“

Kaum war Grönemeyer zurück in Berlin, überfiel Putin die Ukraine. „Ich machte mich an die Texte und überlegte ,Was wird das hier eigentlich, wenn es fertig ist?’ Er, selbsternannter „Chaot in einem strukturierten Team“, habe versucht, sich mit Worten in die fertige Musik hineinzufühlen und zu wühlen wie ein „wildgewordenes Känguru“. Sie seien bei der Arbeit vorgegangen „wie die Blagen auf dem Fußballplatz. Alles, was an Ideen kommt, wird verwurstet.“

Zwanzig Songs habe er betextet, einige, wie die berührende und beschwingt groovende Single „Deine Hand“ zusammen mit der Singer/ Songwriterin Balbina, auch der Liedermacher Max Leßmann hat lyrisch zugearbeitet. „Musik muss Spaß machen und absurd sein“, sagt Herbert. In seinem Fall schließt das eine das andere ausdrücklich mit ein.

„Das ist los“ jammert nicht, malt nicht schwarz und ist doch aktuell

Inhaltlich ist „Das ist los“ nun also Grönemeyers Versuch, sich einen Reim auf das chaotische bis apokalyptisch anmutende und immer wieder überfordernde Weltgeschehen zu machen. Und zwar, das ist seine große Kunst: Ohne zu jammern oder schwarzzumalen, aber auch ohne banale „Es wird alles wieder gut“-Attitüde. Herbert Grönemeyer ist Deutschlands oberster Mutbürger. Alles an „Das ist los“ schleudert Zuversicht in ein oft etwas gereiztes und ratloses, aber auch mit einer robusten Lust an Neustart und Eskalation ausgestattetes Millionenpublikum. Ein Grönemeyer allein wird den Laden nicht zusammenhalten, als Artikulator allgemeingültiger Sorgen, Zweifel und Hoffnungen ist er jedoch nach wie vor unübertroffen. Grönemeyer – ausgestattet mit wenig radikalen, jedoch irgendwie einigermaßen ehrenwerten Grundüberzeugungen. Ihm ist schon wichtig, dass die Gesellschaft nicht komplett auseinanderfliegt. Auch er sehe die Dinge keineswegs rosarot, so Grönemeyer. „Aber gleichzeitig geht es darum, dass man die Aspekte bei sich selbst und in der Gesellschaft sucht, die stark sind und an denen man sich selber aufrichten kann.“ Je krisenbehafteter eine Zeit sei, „desto mehr versuchst du, die Dinge raus zu kramen, die dir Mut machen und die dich positiv stimmen.“

Das ist nicht zuletzt die Liebe. In „Behutsam“, einer etwas an Udo Jürgens erinnernden klassischen Ballade mit Orchester und Dramatik, singt er allem Anschein nach über sein spätes Vaterglück. „Froh, wenn dein Wort klingt/ Froh, wenn dein Herz springt/ Heldinnen werden vom Glück bewacht / Egal, wie’s um dich rum verzerrt/ Du bist nie verkehrt“. 2019 brachte Grönemeyers zweite Ehefrau Josefine Cox das gemeinsame Kind zur Welt. Aus erster Ehe mit der 1998 an Krebs verstorbenen Anna Henkel hat er die die zwei inzwischen Mittdreißigerkinder Felix und Marie.

Manchmal klingt „Das ist los“ nach Achtziger-Rock, manchmal nach Erbauung

Das nach Achtziger-Yacht-Rock klingende und mit einem Saxophon-Solo überraschende „Urverlust“ scheint einmal mehr nach Epochensongs wie „Mensch“ oder „Der Weg“ seine lebenslange Trauer zu thematisieren. Während „Tau“ („Manchmal legt der Tau sich auf mich/ und dann wird‘ ich leise traurig/ Weil ich glaube nicht/ Dass alles so schön ist wie es ist“) eine Ode an Josefine zu sein scheint.

Auch mit politisch-gesellschaftlichen Stellungnahmen knausert er nicht. So ist „Der Schlüssel“ ein großes Stück Erbauungspop, in dem es um das Schicksal vertriebener und flüchtender Menschen geht. Grönemeyer: „Mich hat immer positiv gestimmt, wie die Menschen 2015 in den Bahnhöfen den Geflüchteten entgegengegangen sind. Das ist für mich eines der einprägsamsten Bilder gewesen, die ich in meinem Leben gesehen habe. Das hat nicht nachgelassen, auch jetzt mit den Menschen aus der Ukraine.“ Das zeige ihm, „dass die Gesellschaft ganz andere humanistische Elemente in sich trägt, als wir gemeinhin immer denken. Wir neigen in Deutschland dazu, immer nur das ,Ja, aber‘ zu betonen – doch nicht, was für Qualitäten wir haben. Und da halte ich mich dran fest.“

Grönemeyers Kommentar zur Klimakrise: „Oh Oh Oh“

Das flotte „Oh Oh Oh“ ist Grönemeyers Kommentar zur Klimakrise. „Muss die Welt erst in Flammen stehen/ dass wir uns aus unserem Koma drehen/ Wichtig ist, alle sind oh oh oh dabei/ rüber in die neue Zeit/ Es braucht den nimmermüden oh oh oh Aufschrei“. Er engagiert sich, er reibt sich, ihm liegt die Zukunft am Herzen.

Musikalisch ruckelt es auf „Das ist los“ hier und da ein bisschen. Während die Balladen so balladesk und angenehm warm angeknödelt sind wie eh und je, gibt es in den schnelleren Stücken mehr Beats und mehr elektronische Spielereien als früher, „Eleganz“ etwa kann man schon fast als „clubtauglich“ bezeichnen. Gelegentlich schaut Kraftwerk um die Ecke, wahlweise auch Deichkind oder Trio. Auf die Spitze getrieben wird der musikalisch Wirrsinn im Titelsong „Das ist los“, der ohnehin arg kakophonisch daherkommt. Der Soundtrack zum Daueralarm wirkt überfrachtet, die Aneinanderreihungen von vermeintlichen Aufreger-Themen etwas wahllos. „Bankenkrise, Emirat/ Schuldenbremse, Windradpark/ Lifehacks, Burnout, Horoskop/ Cis, binär und transqueerphob/ Gucci, Prada, Taliban, Schufa, Tesla, Taiwanwahn/ Was ist, Kid, kriegst du noch was mit“. Nach diesem Song braucht Kid erstmal eine Pause und einen „Kokos Limette Koriander“-Cocktail.

Grönemeyer singt: „Fesch sein/ Frech sein/ Keiner kriegt uns jetzt klein“

Der lauteste Aufruf zu Optimismus und außerdem der hittauglichste und musikalisch mitreißendste Song heißt indes „Angstfrei (In der Unruhe liegt die Kraft)“. Hier, in diesem nach Autoscooter, 80ern und Neuer Deutscher Welle klingenden, frühjahrsputzartigen Song für etwas eingetrocknete Schwermutsmenschen, kritisiert der Künstler auf subtile Weise die Bundesregierung („Wer nicht strampelt/ Klebt an der Ampel“). Dass er weder von der der ehemaligen Kanzlerin noch vom aktuellen Amtsinhaber besonders angetan ist, hat Grönemeyer gerade im Interview mit dem „Stern“ geäußert. Und er singt die herrliche Zeile: „Fesch sein/ Frech sein/ Keiner kriegt uns jetzt klein“.

Das Erreichen des gesetzlichen Rentenalters hält den Bundesherbert mitnichten davon ab, gegen das Zaudern und Verzagen anzusingen und für den Aufbruch und den Tanz zu trommeln. Oder, wie er im abschließenden „Turmhoch“ prophezeit: „Die Türen fliegen auf/ Für frische Utopien“. Nein, auch ein Herbert Grönemeyer in „Das ist los“-Bestform wird die Welt nicht retten. Aber sein Album trägt dazu bei, dass wir alle ein bisschen mehr Lust auf die Zukunft bekommen.