Essen. Depeche Mode bringt knapp ein Jahr nach dem Tod von Keyboarder Andy Fletcher jetzt ein neues Album heraus: „Memento Mori“. Es geht zu den Wurzeln.
Sie haben sich noch einmal aufgerafft. 43 Jahre nach Bandgründung, sechs Jahre nach dem letzten Werk „Spirit“, knapp ein Jahr nach dem Tod von Keyboarder Andrew Fletcher veröffentlicht Depeche Mode – bestehend aus Dave Gahan (60) und Martin Gore (61) – am Freitag das neue Album „Memento Mori“. Ende März brechen sie zur Welttournee auf, die sie im Spätfrühling auch zu uns führt.
Was bleibt schon von einem Menschenleben? „Wasted feelings/ Broken meanings/ Time is fleeting/ See what it brings“, singt Dave Gahan in der ersten Strophe von „Ghosts Again“, der Vorab-Single. Alles vergebens, die Zeit rennt davon, bald schon werden wir wieder zu Staub zerfallen, oder, wie es im Refrain heißt: „We know we’ll be ghosts again“. Nun wusste Depeche Mode schon immer auf der Klaviatur von Leben und Tod zu spielen, der neue Song jedoch hebt den Flirt mit der Vergänglichkeit auf ein neues Level. Im düsteren Schwarzweiß-Video, wie immer gedreht von Anton Corbijn, der seit Jahrzehnten für die gesamte Optik der Band verantwortlich ist, kriecht Gahan über einen Friedhof; als Sensenmänner gewandet und mit Gehstöcken bewehrt sitzen er und Kollege Martin Gore auf einem Dach und spielen Schach.
Depeche Mode: Morbide Inszenierung durch Anton Corbijn
Viel morbider mag es zumindest visuell kaum gehen, dabei ist das erste neue Depeche-Mode-Lied seit sechs Jahren rein aus musikalischer Sicht eher auf der helleren Seite des Bandspektrums zu Hause. „Ghosts Again“ erinnert an die Depeche Mode der Jahrtausendwende, an „Precious“ zum Beispiel, auch frühere Hits wie „Enjoy The Silence“ glaubt man als Inspiration herauszuhören. Und das gilt für so manchen der neuen Songs.
„Die Leute sagen uns, dass ,Memento Mori’ so klingt, als würden wir ein Stück zurück zu unseren Wurzeln gehen“, so Martin Gore im Videogespräch. „Vielleicht ist da ein bisschen was dran. Wie jedes unserer Alben ist auch dieses eine Kombination aus Ideen. Es ist einerseits sehr elektronisch, wir nutzen aber auch Gitarre, Bass und Schlagzeug, und auf einer Reihe von Songs haben wir Streicher eingesetzt, die für eine epische Atmosphäre sorgen.“ Ein großes Konzept habe es nicht gegeben. „Wir schreiben Songs, wir nehmen sie auf, und dann klingen sie, wie sie klingen. Ich schwöre, es ist kein Hexenwerk.“ An dieser Stelle lacht der 61-Jährige sein Lausbubenlachen.
Dave Gahan hatte eigentlich keine große Lust mehr auf Depeche Mode
Dave Gahan, ein Jahr jünger, räumt ein, dass er auf ein weiteres Depeche-Mode-Album lange keine große Lust hatte. „Ich hatte einen Hänger, was Depeche betraf. Glücklicherweise verflogen meine Bedenken nach und nach. Vor allem, nachdem ich Martins Songs hörte und auch mir selbst wieder mit „Speak To Me“ und „Before We Drown“ ein paar gute Nummern einfielen.“ Und so spannt „Memento Mori“ einen stilistisch großen Bogen vom aggressiven „My Cosmos Is Mine“ (Gore: „In dem Song geht es darum, inmitten der Machtlosigkeit sein Innerstes zu schützen gegenüber den Stürmen der Welt und sich, zusammen mit seinem Liebsten, am liebsten irgendwo verkriechen zu wollen.“) bis zu hymnischem, James-Bond-tauglichen „Soul With Me“ oder dem dann doch ziemlich zynischen „People Are Good“.
„Wenn ich mich in der Welt umschaue, lässt mich das nicht unbedingt ans Gute im Menschen glauben“, so Gore. „Aber im Sinne unserer Kinder müssen wir uns zusammenreißen.“ Gore hat fünf, zwei davon sind noch klein, während die drei Gahan-Sprösslinge erwachsen sind. Der Frontmann stand in seinem Leben einige Male schon beim Tod im Hausflur (Suizidversuch, Heroinüberdosis, Krebs), immer drehte er noch rechtzeitig wieder um. „Manchmal umschleicht mich der Gedanke an den Tod, aber ich hoffe sehr, er holt mich nicht so bald. Denn ich liebe mein Leben, meine Frau, unsere mittlerweile erwachsenen Kinder, die Freunde, unsere Katzen. Es macht mich glücklich, mit denen zusammen zu sein. Und ich brauche gar nicht viel. Ich liebe schöne Abende bei gutem Essen und guten Unterhaltungen. Mit 30 wäre ich stattdessen immer auf der Suche nach der nächsten Ekstase, der nächsten Eskalation gewesen. Mit 60 blicke ich voller Dankbarkeit auf mein Leben und die kleinen Freuden des Alltags.“ Gore sieht die Dinge ähnlich, allerdings bereiten ihm das Alter und das Altern größere Probleme als seinem Kollegen, sagt er. „Die 60 waren für mich ein Weckruf. Ich bin definitiv längst in der zweiten Halbzeit.“
Trauer um Andrew Fletcher brachte Dave Gahan und Martin Gore einander wieder näher
„Bedenke, dass du sterben wirst“, so lautet die Übersetzung des lateinischen Begriffs „Memento Mori“. Der Titel stand längst fest, als die Band im Mai 2022 von einem denkbar tragischen Ereignis erschüttert wurde. Andrew „Fletch“ Fletchter, der zurückhaltende wie herzliche Keyboarder, starb urplötzlich im Alter von 60 Jahren an einem Riss der Hauptschlagader. Gore und Gahan hatten sich zu dem Zeitpunkt bereits mit ihrem Produzentenduo James Ford und Marta Salogni zu ersten Aufnahmen getroffen, die Songs waren alle geschrieben. „Und von einem Augenblick auf den nächsten sind wir nur noch zu zweit“, so Gahan. Und jetzt? Zu zweit auf Fotos, zu zweit im Video, das Bandgefüge nach dem Tod der guten Seele Fletch muss erst wieder neu eingestellt werden.
Doch Depeche Mode zu beenden, sei nie erwogen worden, sagen sie. Gahan und Gore telefonierten sich trauernd zusammen und entschieden, weiterzumachen. „Wir waren froh, dass wir die Musik hatten“, sagt Martin Gore. „Mental war es wichtig, uns auf Depeche Mode fokussieren zu können.“ Als Nebeneffekt aus der Tragödie stehen sich die beiden nun näher als je zuvor. Dave Gahan: „Andy war immer so etwas wie die Bande, über die wir uns unterhielten. Nun reden wir plötzlich so viel und so intensiv miteinander wie nie zuvor.“