Oberhausen. Fotografien von Barbara Klemm aus fünfeinhalb Jahrzehnten sind in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen zu sehen, historische Momente inklusive.

Der Bubi im besten Kindergartenalter hat sich auf die Museumsbank gefläzt und versteckt sich hinter seiner zusammengeknuddelten Jacke. Seinen Haarschopf sieht man – und ein einzelnes, weit aufgerissenes Auge, das unverwandt, forschend, staunend, direkt ins Kamera-Objektiv blickt, während die Eltern in seinem Rücken ins Bildergucken vertieft sind.

Dieses Foto hat Barbara Klemm 1964 gemacht, da ist sie gerade 25, hat eine Lehre im Porträtatelier der Fotografin Julie Bauer in Karlsruhe absolviert, wo sie als Tochter des Malers Fritz Klemm aufwuchs. Fotografie war damals noch weit davon entfernt, als Kunstform anerkannt zu sein, ein Handwerk. Barbara Klemm hatte einen Gesellenbrief und arbeitete noch als Klischografin, also in der Druckplattenherstellung und im Fotolabor der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Erst 1970 wird sie, für ein Vierteljahrhundert, fest angestellte Fotografin der „Zeitung für Deutschland“. Schon der Blick des kleinen Jungen offenbart die Meisterschaft Barbara Klemms, die bis heute analog, also auf Film mit der Kleinbildkamera fotografiert. Dieses Handwerkszeug setzt Grenzen: Es zwingt zu unablässiger Aufmerksamkeit für den einen Augenblick, in dem sich eine Szene zum aussagekräftigen Motiv verdichtet, ja zu einer Komposition.

Abzug der Roten Armee in Berlin

Bei Barbara Klemm kann das der DDR-Grenzsoldat sein, der gerade durch eine Türöffnung in der Berliner Mauer wieder in den SED-Staat zurückkehrt. Oder der tief verzweifelte Philosoph Theodor W. Adorno, der sein Frankfurter Institut für Sozialforschung von der Polizei räumen lassen muss, weil die studentische Jugend, die er mit seiner Gesellschaftskritik magnetisch anzog, seinen Lehrbetrieb blockierte.

Oder die in herzlicher Abneigung verbundenen Parteifreunde Willy Brandt und Helmut Schmidt, die Köpfe im 90-Grad-Winkel voneinander abgewandt. Oder die beiden Sowjet-Soldaten 1994 beim Abzug der Roten Armee aus Berlin, die im Laufschritt über den Bahnsteig hetzen, während neben ihnen ein T-80-Panzer auf dem Güterzug gen Osten rollt.

Ein berühmtes Foto von Barbara Klemm: Willy Brandt 1973 in Bonn, umgeben von Dolmetschern und Beratern, links von ihm sitzt Leonid Breschnew, zu seiner rechten Bundesaußenminister Walter Scheel. Es ist der erste offizielle Besuch eines sowjetischen Staatschefs seit dem Zweiten Weltkrieg.
Ein berühmtes Foto von Barbara Klemm: Willy Brandt 1973 in Bonn, umgeben von Dolmetschern und Beratern, links von ihm sitzt Leonid Breschnew, zu seiner rechten Bundesaußenminister Walter Scheel. Es ist der erste offizielle Besuch eines sowjetischen Staatschefs seit dem Zweiten Weltkrieg. © Barbara Klemm | Barbara Klemm

150 solcher Fotografien bilden nun die Ausstellung „Schwarzweiß ist Farbe genug“; Barbara Klemm hat sie selbst ausgesucht, selbst gehängt. Die Folkwang-Preisträgerin des Jahres 2021 hat die Ankunft von „Gastarbeitern“ fotografiert, die ersten Männer mit Kinderwagen, die traumschöne, kilometerlange „Steinberger Tafelrunde“ in den Weinbergen des Rheingaus, die Armen und Reichen in den USA und Kalkutta im Elend.

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Hier, wie in vielen anderen Momenten, gelangen ihr Fotos mit der Qualität von Gemälden. Wer ihre Aufnahme von der Öffnung des Brandenburger Tors am 22. Dezember 1989 sieht, erschauert unwillkürlich über das Zusammenspiel von Monumentalität und Detail – das Nationalsymbol im dunstigen Gegenlicht Dutzender Lichtstrahler fürs Fernsehen, das mickrige Transparent „Deutschland einig Vaterland“ ist nur in Spiegelschrift lesbar und die Quadriga ein Schemen voller Schicksal, die Menschen auf der Mauer haben Regenschirme aufgespannt.

Ein Foto, das dabei half, dass die NPD unter der Fünf-Prozent-Hürde blieb

1969 fotografierte sie die feist-fetten Saalschutz-Lümmel der NPD unter ihren Schutzhelmen, und Walter Scheel meinte damals, sie habe mit diesem Foto, das europaweit durch die Presse ging, dabei geholfen, dass die Partei unter der Fünf-Prozent-Hürde blieb.

Folkwang-Preisträgerin Barbara Klemm zeigt 150 Fotografien in Oberhausen.
Folkwang-Preisträgerin Barbara Klemm zeigt 150 Fotografien in Oberhausen. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Barbara Klemm war auch die Meisterin der historischen Augenblicke. Lichtete die souverän-coole Gratulation des abgewählten Helmut Schmidt an seinen Nachfolger Helmut Kohl unter den verräterischen Blicken von Hans-Dietrich Genscher ab, den hündisch-unterwürfigen Zungenbruderkuss, mit dem Erich Honecker 1979 Leonid Breschnew in Berlin begrüßte.

Gerhard Schröder als strahlender Wahlsieger

Gerhard Schröder als strahlenden Wahlsieger von 1998; den beim schwungvollen Abgang so selig lachenden Wolf Biermann nach seinem Vier-Stunden-Auftritt in der Kölner Sporthalle 1976, dem seine Ausbürgerung folgte; Michail Gorbatschow am 40. Jahrestag der DDR 1989 voller Tatendrang und Optimismus in Ost-Berlin – und wenige Wochen später die skeptisch-sorgenvollen Gesichter von Gregor Gysi, Bärbel Bohley, Ulrich Mühe und Heiner Müller am 4. November bei der Demo auf dem Alexanderplatz unter dem Schriftzug „Reisebüro“.

Dass Barbara Klemm auch eine begnadete Porträt-Fotografin ist, lässt sich bei ihren Künstler-Fotos entdecken: der smarte Klassizist Durs Grünbein, Anselm Kiefer auf dem bücherübersäten Bett, Friederike Mayröcker in ihrer Manuskripthöhle – und schließlich Barbar Klemms Vater Fritz im Atelier, vor dem lichtdurchfluteten Fenster, als alter Mann in viel zu breit gewordenen Hosen, ein Porträt voller Liebe, Respekt und – Kunst.

>>> Die Ausstellung <<<

Barbara Klemm: „Schwarz-Weiß ist Farbe genug. Fotografien 1967 bis 2019“. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Bis 7. Mai.

Geöffnet: Di-So 11-18 Uhr. Eintritt: 8 €, erm. 4 €, Familien 12 €. Booklet zu den Fotos: 5 €.