Dortmund. Der Dortmunder Geierabend hebt nach drei Jahren eingeschränkter Flugfähigkeit wieder ab. Ruhriger denn je – und mit einem Hieb gegen Claudia Roth.
Drei Jahre zum Nesthocken verdonnert, das dürfte für Krawallbrüder (und -schwestern) die Härte sein. Nun aber sind Dortmunds Geier wieder frei, kreisen über dem schönsten Ruhrgebiet der Welt und schlagen zu. Mit schlechter Laune ist erstmal Schicht, der große, schräge, schrille Antikarneval ist zurück auf Zeche: „Den ham wa uns verdient“, lautet das Motto. „Wir können uns nicht alle den ganzen Winter in Schutzräumen um Teelicht-Öfen versammeln und auf Frontberichte starren“, meint Steiger Martin Kaysh, „wir alle haben eine Sehnsucht nach kleinen Glücksmomenten und Lachen.“
Recht hat der Mann. Die ersten Flugbewegungen sind noch etwas ungelenk, dann wird’s lockerer, lustiger, böser und bissiger und in der zweiten Hälfte rasant. Zuschauer dürfen sich auf musikalische Höhenflüge freuen wie Nina Hagens „Du hast das Frachtschiff vergessen“, von Nina Mühlmann so stark gesungen wie das Original der Punk-Ikone.
Claudia Roth und die Kaulitz-Brüder (Tokio Hotel): „Pannekopp des Jahres“-Kandidaten
Um es gleich vorwegzunehmen, das mit dem Gendern sparen wir uns hier und heute und halten es mit der Sitzungsleitung. Der schlaue Steiger hat sich ein Sternchen-Schild gebastelt, das steckt in seiner Lore und wackelt bei Bedarf. Schöne Idee.
Zum „Pannekopp des Jahres“ gewählt wurde – noch niemand, aber die Kandidaten sind illuster: Claudia Roth steht auf der Liste, weil sie das Foto-Institut des Bundes nicht nach Essen, sondern nach Düsseldorf beförderte. Die Alternative sind die Kaulitz-Brüder von Tokio Hotel, die erklärt hatten, dass „Dortmund jetzt nicht die schönste Stadt ist“. Und Steiger Martin Kaysh warnte das Publikum: Fiele die Wahl auf die Tokio-Hoteliers, rechne man allenfalls mit einem Shitstorm im Netz, aber „wenn die Roth gewinnt, kommt die!“ Bei der Premiere hatte sie trotzdem die Nase klar vorn.
Roman Marczewski als „Präsi der Herzen“
30 Jahre schon ist der Präsident der Präsi, der „Präsi der Herzen“. Deshalb bekommt Roman Marczewski nach drei stillen Jahren endlich wieder seine Solo-Singstücke. „Ich bin wieder hier“, das Lied ist dem kleinen großen Krawallmacher auf den Leib geschrieben. Der Präsi singt Westernhagen an die Wand.
Apropos Frontbericht: Den liefern drei grüne Geier-Generäle, die 100 Milliarden Sondervermögen für die Truppe verprassen sollen. Früher haben die Grünen Kröten über die Straße getragen, jetzt würgen sie, weil sie so viele schlucken müssen. „Frieden schaffen ohne Waffen“ war gestern, heute können Oberbefehlshaber Hofreiter & Co die Dienstgrade der Bundeswehr im Schlaf aufsagen. Bitter-böse, kaum erfunden.
Sebastian Thrun, Angelo Enghausen Micaela und Silvia Holzhäuser liefern hier eine der stärksten politischen Nummern des Abends ab. Dicht gefolgt von den zwei Dortmunder Polizisten mit brauner Brille, die ein ereignisreiches Jahr und ihre Personalakte Revue passieren lassen. Da bleibt einem das Lachen schon mal im Halse stecken. Highlights an diesem Abend setzt auch Sandra Schmitz, die erklärt, was Sache is im Pott und dass Konsonanten hier nur im Doppelpack Verwendung finden: „Das heißt auffe Zeche, aussem Pütt, vonne Schule, nache Arbeit, ausse Siedlung, umme Ecke, auffe Schicht, nach Untertage, im Streb, inne Dunkelheit, am Malochen, vor Kohle, mitte Kumpels, anne Schüppe, zum Ende, vorre Rente, aus, zu, vorbei. Bisse im Arsch. Ist datt denn so schwer?“ Musste ja auch mal wieder gesagt werden.
Becketts „Warten auf Godot“ im Handy-Zeitalter
Die vorlaute Schmitz erklärt uns auch die Jessica-Methode, „wir lernen das Sparen neu“. Alleinerziehend mit vier Kindern gibt sie Tipps fürs umsonst Baden, Heizen oder Urlaub machen: Zum Duschen die Omma im Krankenhaus besuchen, „muss ja nicht die eigene sein“ oder mit dem geklauten Dackel zum kostenlosen Hundeschwimmen ins Freibad. Ihre Proll-Nummer ist ein Brüller und garantiert nichts für „Gucci-Tussis“.
Wussten Sie, dass es für den Geierabend sogar Fortbildungspunkte gibt? Zumindest für „Immer noch warten auf Godot“ – frei nach Samuel Beckett, dessen Original vor 70 Jahren Uraufführung in Paris feierte. Estragon und Wladimir sind online, Godot ist allerdings analog unterwegs. Weshalb es mit einem realen Treffen nichts werden kann, spielen der Präsi, Sebastian Thrun und Angelo Enghausen-Micaela und halten uns, die wir ständig aufs Handy starren, den Spiegel vor. Selbst eine ganze Band mit Tschingderassassa und Godot im Schlepptau kann die Smartys nicht von ihren Geräten lösen. Die drei kommen nicht zusammen. Großartige Szene.
Gute Musik, tolle Kostüme und Schwung in der Choreografie: Die schrägen Vögel heben wieder ab. Ham wa gegeiert.