Recklinghausen. Insekten mit Kunst im Leib: In der Ausstellung „Different than it seems“ in der Kunsthalle Recklinghausen ist wirklich nichts, wie es scheint.

Seit gut anderthalb Jahren leitet Nico Anklam die Kunsthalle in Recklinghausen, und mit ihm ist tatsächlich ein frischer Wind der Veränderung in den Hochbunker am Hauptbahnhof eingezogen. Anklam hat auf allen drei Etagen Fenster öffnen lassen, die zuvor verbarrikadiert waren, damit auf der Rückseite Kunst hängen konnte. So ist nicht nur Tageslicht ins Museum hereingekommen. Es ist nun vielmehr auch von außen nicht mehr zu übersehen, dass hier die Kunst ein Zuhause hat. Aktuelle Kunst, junge Kunst. Wie sich das gehört für einen Kultur-Leuchtturm, in dem seit Ende des Zweiten Weltkriegs der Kunstpreis „Junger Westen“ heimisch ist.

Nico Anklam hat in diesem Jahr mit Flo Kasearu aus Estland die jüngste Künstlerin verpflichtet, die je zu den Ruhrfestspielen ausgestellt wurde. Die Frau, die aus Blechstücken eines Hauses einen Düsenjet-Flügel formte und im Frühjahr an Ruhrfestspiel-Tagen zum Teil berittene „Unordnungs-Patrouillen“ auf den Grünen Hügel von Recklinghausen schickte, machte denn auch in diesem Herbst auf der Art Cologne Furore.

Spiegelscherben und Kleinstkäfer

Mit ihrer Mischung aus Hintersinn, Einfallsreichtum, Ironie und Kunstgeschichtsbewusstsein kann Kasearu als programmatische Wahl von Nico Anklam gelten, wie sich in der nun von ihm kuratierten Ausstellung „Different than it seems“ zeigt, denn hier ist tatsächlich nichts so, wie es scheint – wo doch gerade der Schein in jeder Bedeutung des Worts zum Kern der Kunst gehört. Hier wird er kritisch befragt. Etwa vom internationalen Kunst-Star Alicja Kwade: Sie macht aus einem Gebrauchsgegenstand wie dem Thonet’schen Bar-Hocker eine Skulptur, indem sie das Möbel aus einem einzigen Stück Holz herausschält, als wäre es ein Pendant zu Michelangelos „David“. Die deutsch-polnische Künstlerin variiert zudem die Beuys’sche Fettecke mit zermahlenen Spiegelscherben, deren zusammengekehrter Haufen den ironischen Titel „Looking Glass“ trägt.

Unter Glas befinden sich auch die unscheinbaren Kleinstkäfer, welche die Französin Béatrice Balcou in Museen eingesammelt hat, wo sie, nach festgestelltem Befall der Kunst, der Schädlingsbekämpfung zum Opfer fielen. Jetzt weisen die Werktitel etwa auf ein „Anobium Punctatum + Imi Knoebel“ hin, also auf einen gewöhnlichen Nagekäfer, der sich frecherdings über ein minimalistisches Werk des Beuys-Schülers hergemacht hatte. Oder ein Kapuzenkugelkäfer, der eher Geschmack an etwas abgehangenerer Kunst gefunden hatte: einem gemalten Vogel aus der japanischen Meiji-Zeit (1868-1912).

Digitales Wesen aus Ästen und Zweigen

Und was auf der Videowand im Obergeschoss so aussieht wie eine riesengroße Stabheuschrecke, die sich in perfekter Augentäuschung den Ästen des gemeinen Ficus benjamina anverwandelt hat, ist in Wahrheit ein rein digitales Wesen, das der Video-Künstler Paul Spengemann aus 13 Ästen und Zweigen seiner heimischen Birkenfeige zusammengesetzt hat. Es huscht nun im Obergeschoss der Kunsthalle Recklinghausen im Zehn-Minuten-Takt über die Leinwand.

Buch gewordene Breitengrade

Eher still und alles andere als ein Aufreger sind die Werke von Katja Aufleger, die auch schon mal die drei Bestandteile von Nitroglycerin in Glaskugeln nebeneinandergehängt hat. Für die Ruhrtriennale choreografierte sie in diesem Jahr ein Baggerballett vor der Bochumer Jahrhunderthalle. Nun hat sie die Höhenprofile der irdischen Nordhalbkugel auf eine Vinyl-Schallplatte übertragen, die in der Kunsthalle abgespielt werden kann. Der Tonarm rauschknistert sozusagen vom Äquator bis zum Nordpol über die Höhenzüge des Blauen Planeten. Die Südhalbkugel gibt es auf der B-Seite, eine andere Platte lässt die beiden Seiten des Mondes auf dem Plattenteller kreisen und knirschen.

Auflegers doppelt ziegelsteindickes Buch „Volumen“ dagegen bietet auf jeder Seite einen Maßstabsgetreuen Querschnitt durch die Erde, Breitengradminute für Breitengradminute, sozusagen. Fünf dieser Bücher liegen auf Podesten im Kreis aus, wie zu einer rituellen Lesung. Dabei wäre es, übersetzt, eine Wanderung. Es ist eben nichts, wie es scheint hier.

Zur Ausstellung

„Different than it seems“. Kunsthalle Recklinghausen, Große-Perdekamp-Straße 25-27. Bis 29. Januar. Geöffnet: Di-So 11-18 Uhr, Heiligabend und Silvester 11-14 Uhr. Eintritt: 5 Euro, erm. 2,50 Euro.