Essen. Die „Simple Minds“ veröffentlichen ihr 19. Studio-Album. „Direction Of The Heart“ ist auch eine Rückbesinnung auf die musikalischen Wurzeln.

Mehr als 60 Millionen verkaufte Tonträger sind ein klares Signal: Die „Simple Minds“ gehören zu den erfolgreichsten Musikgruppen der 1980er- und frühen 1990er-Jahre. Jetzt stellt die Band ihr 19. Studioalbum vor. Darüber sprach Marcel Anders mit Sänger Jim Kerr(63).

Herr Kerr, die Hallen werden wieder größer; die Songs besser und auch die Albumverkäufe ziehen an. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Jim Kerr: Nein, aber es ist umwerfend. Hätte man mir das vor ein paar Jahren prophezeit, hätte ich es nicht glauben wollen. Aber es ist wirklich so: Man kann auch im fortgeschrittenen Alter Erfolg haben – so lange da Leidenschaft herrscht und man etwas zu sagen hat. Insofern haben wir uns in den letzten Jahren alle Mühe gegeben, wieder richtig gute Songs an den Start zu bringen. Ein anstrengender Prozess – aber er lohnt sich.

Wobei Sie wieder beim Sound Ihrer Anfangstage angelangt sind: bei elektronischem Rock. Ein „zurück zu den Wurzeln“?

Wenn dass der Eindruck ist, den unsere aktuelle Arbeit vermittelt: prima (lacht). Charlie und ich lieben es, uns in Sachen Studio-Technik auszutoben – wie ein Maler, dem plötzlich mehr Farben zur Verfügung stehen und der erkennt: ´Wenn ich dies tue und das ändere, ergibt sich daraus dieses oder jenes.´ Die Elektronik ist wie eine Palette an Sounds, die über das Konventionelle hinausgehen. Deshalb kann man oft nicht sagen, ob man nun eine Gitarre oder einen Synthesizer hört – oder einen Mix aus beidem. Sprich: Die Elektronik ermöglicht uns eine große, spannende Spielwiese. Und das Ergebnis kann man nicht klassifizieren: Man macht es, fühlt es, versteht das Bild, nimmt eine Atmosphäre wahr, kann aber nicht genau sagen, was sie auslöst. Es ist wie ein abstraktes Kunstwerk.

Gitarrist Charlie Burchill ist seit 45 Jahren fest an Ihrer Seite. Was ist Ihr Geheimnis?

Ist das nicht irre? Wir kennen uns seit wir acht Jahre alt sind, und wir haben eine tolle Freundschaft und ein tolles Arbeitsverhältnis. Wir sind in derselben Straße in Glasgow aufgewachsen – und leben jetzt in derselben Straße in Taormina, auf Sizilien. Das ist wirklich etwas Besonderes. Und obwohl wir nicht immer derselben Meinung sind, ziehen wir doch grundsätzlich an einem Strang.

„Direction Of The Heart“ ist das 19. Album Ihrer Karriere. Warum investieren Sie noch Arbeit, Zeit und Geld, wenn sich mit Tonträgern angeblich nichts mehr verdienen lässt?

Es ist das, was wir tun – wir schreiben Songs, seit wir 13, 14 sind. Diese Band ist unsere Leidenschaft, unser kreatives Ventil, unsere Art des Ausdrucks. Selbst, wenn sich nicht mehr so viele Leute dafür interessieren, wie es mal der Fall war, halten wir doch daran fest – weil wir das müssen. Zumal es auch so ist: Trotz Spotify finanzieren sich unsere Alben von selbst – wegen der treuen Fangemeinde, die immer noch haptische Tonträger kauft. Das macht uns vielleicht nicht reich, beschert uns aber auch keinen Verlust und – das ist das Wichtigste – es bewahrt uns davor, zum reinen Museumsstück zu werden. Das ist uns wichtig.

Was Ihnen auch mal wichtig war: Die Haftentlassung von Nelson Mandela, das Ende der Gewalt in Nordirland und der Kampf gegen den Hunger in Afrika. Wie empfinden Sie die heutige Welt?

Wer hätte vorhersehen können, dass wir nicht nur eine globale Pandemie erleben, sondern auch die Rückkehr des Kalten Kriegs mit Russland, der eigentlich längst vorbei schien. Oder diese Flüchtlingsströme: Menschen, die per Boot über den Ärmelkanal zu kommen versuchen - nur um per Flugzeug nach Ruanda abgeschoben zu werden. Ich hätte auch nie gedacht, dass ich mal den Brexit erleben würde. Es ist unfassbar.

Also ist das Therapeutische der Musik umso wichtiger – um die geballten Probleme und Missstände einfach mal auszublenden?

Es gibt unterschiedliche Arten von Musik, die gut für unterschiedliche Dinge sind. Aber was ich auf unserer jüngsten Tour erlebt habe, ist, dass Menschen da über zwei Stunden rumgehüpft sind. Und ich schätze: Wenn sie das tun, vergessen sie alles andere, über das wir gerade gesprochen haben. Das ist wichtig: Man muss abschalten können. Und in einer Menge zu tanzen und Spaß zu haben, vermittelt das Gefühl von Gemeinschaft und Geborgenheit. Wo sonst würde man das gerade finden?

Sie selbst haben Ende 2019 Ihren Vater verloren – wie gehen Sie damit um?

Ich habe einen Song darüber geschrieben: „Vision Thing“. Wir waren etwa eine Woche im Studio, als wir hörten, dass er schwer krank sei und das Ende der Aufnahmen wohl nicht mehr erleben würde. Wozu ich sagen muss, dass er nicht nur mein Vater, sondern auch einer meiner besten Freunde war – und ein herzliches Verhältnis zu Charlie hatte. Von daher waren wir beide emotional sehr aufgewühlt, dass es ihm schlecht ging, und so entschied ich mich, bei ihm einzuziehen und die letzten Wochen mit ihm zu verbringe. Was bedeutete, dass wir endlose Gespräche über alles Mögliche geführt haben. Und als ich dann an diesem Song gearbeitet habe, wurde mir klar, dass er von ihm handelt. Ich war im Schlafzimmer neben ihm, hörte mir die Musik an und bastelte an den Worten, als er brüllte: „Der Song geht mir auf die Nerven. Warum hörst du ihn und immer wieder? Willst du mich ärgern?“ Und ich: „Ich arbeite daran – das ist mein Job.“ – „Ach so, na dann…“ (lacht) Von daher ist es zwar ein trauriger Song, aber voller Licht und Spaß. Er ist eine Hommage an das Leben.

Was hält Jim Kerr vom zweiten Referendum zur schottischen Unabhängigkeit?

Ich lebe nicht mehr in Schottland und insofern tangiert mich das nicht wirklich. Aber: Natürlich verstehe ich, warum die Menschen genug von Westminster haben. Ich kann ihre Wut und ihren Frust nachvollziehen – und auch ihren Wunsch, sich davon zu lösen. Der Punkt, an dem ich meine Zweifel habe, ist: Sollte es dazu kommen, dürfte das eine echte Herausforderung darstellen, und ich sehe momentan niemanden, der da einen guten Job leisten könnte. Das bereitet mir Sorgen: Nicht die Idee, sondern die Umsetzung. Ganz abgesehen davon, dass die Menschen in Liverpool, Birmingham oder Manchester ebenfalls nichts mit den Entscheidungen zu tun haben wollen, die in London getroffen werden. Von daher haben die Engländer und Schotten eigentlich viel gemeinsam. Vielleicht sollte man sich daran erinnern, dass man eine Regierung, mit der man unzufrieden ist, auch abwählen kann.

Stünde Jim Kerr als Premierminister zur Verfügung?

Ich hätte gar nicht die Zeit. Und solche gravierenden Entscheidungen müssten eh von der jungen Generation getragen werden, die damit leben muss. Von daher halte ich mich da raus.

Sprich: Wenn Sie nicht auf der Bühne oder im Studio stehen, haben Sie genug mit den deutschen Touristen in Ihrem Hotel, der Villa Angela auf Sizilien, zu tun?

Ich stehe selten hinter der Rezeption – und das ist auch gut so. Aber: Bei mir seid ihr immer willkommen. Ich verdanke den Deutschen ein tolles Leben. Mögen noch einige Jahre dazukommen… (lacht)