Bochum. Intensives Theater ohne den Regisseur als Selbstdarsteller: Mateja Koležnik inszeniert in Bochum „Kinder der Sonne“ auf sehr hohem Niveau.

Von diesem Theaterabend wird beim Rückblick auf die noch junge Spielzeit etwas Bemerkenswertes außerhalb der Bühne bleiben. Das war Samstag Abend bei Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ in Bochum eine lange nicht gekannte Atmosphäre im Zuschauerraum. Jene bedingungslose Zugewandtheit, wenn sich ein Regisseur ganz einfach und ungebrochen auf die Figuren konzentriert und uns eine Geschichte erzählt. Mancher mag es vergessen haben: So etwas entsteht, wenn keine verschwurbelten Parallel-Universen und nicht der elfte Punk-Song auf uns eindreschen. Es geschieht, wenn die Akteure nicht dauernd aussteigen und eitel an der Rampe jammern, wie kacke das alles sei, was Ibsen und Co...

Eine Kaste im eigenen Saft: Gorkis „Kinder der Sonne“ in Bochum

Wenn man so will, erlebten wir eine heute von den Platzhirschen deutscher Bühnen fast verdrängte Form des Theaters. Eine wie sie früher im Schauspielhaus einmal durch Menschen wie Andrea Breth verkörpert wurde, in Gorkis „Die Letzten“ etwa, luxusbesetzt in einer großen Bochumer Zeit von Traugott Buhre bis Thomas Thieme.

Ganz ähnlich wie damals Gisbert Jäkel schaut auch Raimund Orfeo Voigts Bühnenbild ins braunmelierte Innenleben einer Kaste, die vor sich selbst fliehen müsste – und doch gänzlich unfähig ist, dem eigenen Saft zu entkommen, während draußen die Cholera tobt und die Massen weder den Ärzten noch den Nachrichten glauben wollen.

Mateja Koležniks Regie zeigt große Tugenden hochklassigen Theaters

Aber vor uns läuft eine Intelligenzija selbstgemachten Sehnsüchten hinterher – im Kreis, bei allem Tempo von der Erfüllung entfernt wie jene Tiere auf Kinderkarussells, die sich drehen und drehen, aber einander nie erreichen. Protassow, der verrückte Chemiker, seine unglückliche Frau Jelena, seine labile Schwester Lisa. Die Trabanten: Maler, Tierärzte, gewalttätige Proleten und Dienstboten. In allen spiegelt Gorki vielgesichtig: Die Lage ist erbärmlich, von oben kommt der Mumm, sie zu ändern, kaum.

Was Voigt mit Treppe, Seitentüren und verrückbarem Mobiliar wie eine Filmkulisse bauen ließ, hätte auch das Zeug, gut geöltem Boulevard-Theater den Boden zu bereiten. Mateja Koležniks subtile Regie besäße auch dafür ein Händchen. Freilich: Wie sie in dieser radikal gekürzten Fassung (manches goldene Wort Gorkis wird geopfert: „Schau doch mal in den Abgrund, der Dich von Deiner Köchin trennt!“) ihr hochklassiges Ensemble die trockenen Pointen servieren lässt, ist das immer schon ein Witz am klaffenden Abgrund. Einmal nur, unsichtbar dazu, blitzt die Rebellion der Unterschicht auf.

Wer dieser Deutung allerdings ankreidet, dass sie das zwischenmenschliche Duell einer Elite in den Fokus rückt, wird auch bei Gorki kaum anderes vorfinden: Sein Wutstück galt 1905 eben dieser Ignoranz jener „Kinder der Sonne“, die banales Herzeleid priorisiert, taub für die Revolte des Rinnsteigs.

Schwerblütig und leichtfüßig:das Ensemble durchmisst die Tragikomödie gekonnt

Koležniks Idee, den Film als Medium einzusetzen (der Maler Wagin turnt mit seiner Kamera herum), fällt an diesem fesselnd gespielten Abend kaum ins Gewicht. Das Schwerblütige aber rauscht oft zaubergleich leichtfüßig vorbei. Guy Clemens’ Protassow: ein kindliche Inselbegabung, hinreißend zart auskoloriert. Karin Moog und Amelie Willberg bestechen im Domestikenfach: von fügsamer Wut beseelt die eine, geschunden aufbegehrend die andere. Dominik Dos-Reis gibt als Veterinär Tschepurnoi der fragilen Munterkeit eines Todgeweihten faszinierende Züge. Indes wünscht man Victor Ijdens (Wagin) einen Kurs in Hochlautung, um sein vokales Potenzial nicht ans unfreiwillig Parodistische zu verschenken.

Großer, warmer Beifall.

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BESONDERE PLATZ-SITUATION DURCHS BÜHNENBILD

Einen hohen Preis zahlt Bochums Schauspielhaus für das Bühnenbild von „Kinder der Sonne“. Die Räume wie eine Kulisse zu zeigen, bedeutet theaterpraktisch auch, ihnen eine mit Scheinwerfern ausstaffierte Umgebung zu ermöglichen. Diese aber begrenzt die Sichtachse aus dem Parkett. Etliche Plätze links und rechts außen werden darum nicht verkauft.

Nächste Aufführungen von „Kinder der Sonne“ (105 Minuten ohne Pause) sind am 15. (Schnäppchen-Tag, alle Plätze 10€!) und 30. Oktober sowie am 5., 9 nud 12. November. Karten Tel. 0234-33335555