Essen. Der Literaturnobelpreis für Annie Ernaux ehrt ein Werk, das kühl auf die Arbeiterklasse, das eigene Ich und seine Geschichte blickt – scheinbar.

„Eine Frau“, „Die Scham“, „Die Jahre“, „Der Platz“, „Das Ereignis“ – viele der gut 20 Titel im überschaubaren Gesamtwerk der neuen Literatur-Nobelpreisträgerin Annie Ernaux klingen fast lapidar, passend zum vorsätzlich Kunstlosen ihrer Oberfläche: Die promovierte Literaturwissenschaftlerin sammelt darin „objektive Beweise einer Existenz, von der ich ein Teil gewesen bin“, wie sie in der Biografie ihres Vaters unter dem Titel „Der Platz“ (1983) schrieb. Es geht bei all ihrem Schreiben auch um die Hoffnung, man könne damit „etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“

Das Autobiografische ist bei Annie Ernaux aber nie eitle Selbstbespiegelung, immer geht es letztlich um ein Leben, das doch für so viele steht: Das Leben einer Frau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in Frankreich, aber mehr noch in der westlichen Welt – einer Frau, die tat und ließ, was so viele taten und ließen. Die heute 82-Jährige blickte aber auch immer wieder zurück auf ein Leben, das in jeder Hinsicht emanzipatorisch war. Sie lernte sich empor aus Verhältnissen, in denen Bildung, Manieren und der gegenseitige Austausch im Gespräch nichts galten. Ernaux’ Großeltern lebten noch in Häusern mit Lehmboden, ihr Vater arbeitete sich vom Knecht zum Kneipier hoch, nachzulesen in dem Text „Der Platz“. Ihre Mutter, die sie später in dem Requiem „Eine Frau“ (1987) würdigte, empfand sich als „Arbeiterin, aber anständig“, der Traum vom eigenen Laden wurde in der Kneipe wahr. Aber ihrer beider Tochter wird im Rückblick darauf viel wunschloses Unglück erkennen, aber auch Würde.

Durchdrungen von Pierre Bourdieu, Roland Bar­thes und Simone de Beauvoir

Durch ihren Aufstieg ins Bürgertum entfremdet sich Annie Ernaux von ihrer Mutter, ihrem Vater, sieht in ihnen nicht nur Eltern, sondern auch Repräsentanten der Arbeiterklasse. Deren Sprache war für sie als junge Frau ein Makel, von dem sie sich wegarbeitete. In ihrem frühen Roman „Die erstarrte Frau“ (1981) erkennt eine solche Aufsteigerin in die Bürgerschicht erst allmählich, wie sehr genau diese bourgeoise Sprache zur gesellschaftlichen Unterdrückung der Frau beiträgt.

Annie Ernaux hat die Theorien von Pierre Bourdieu, Roland Bar­thes und Michel Foucault offenbar inhaliert – aber nicht deren Sprache. Das Einfache, das Lakonische, Unsentimentale ihrer Schreibart rührt aus dem Versuch, den überwundenen Arbeiter-Slang genauso zu vermeiden wie das Fachchinesisch der Soziologie. Es geht darum, die Dinge beim Namen zu nennen, ohne ihnen mehr Bedeutung zu geben, als sie im Alltag, im Leben der normalen Menschen haben. Und doch steigt aus diesen schlichten Worten eine intensive Atmosphäre auf, und man meint nicht selten, einen Herzschlag zu hören, einen warmen Puls unter der kühlen Schutzschicht zu spüren.

Goldener Löwe von Venedig für die „Ereignis“-Verfilmung mit

Erst recht in dem Roman „Das Ereignis“ (2000), dessen Verfilmung durch Audry Diwan im vergangenen Jahr den Goldenen Löwen von Venedig gewann und in diesem Frühjahr in unsere Kinos kam: Nachdem eine Partynacht im Bett eines Kommilitonen endete, steht eine junge Frau Anfang der 60er-Jahre vor der Wahl, ihr Kind im Bauch abtreiben zu lassen – oder ihren Aufstieg, ihre Karriere, ihre Träume, ja ihre hart erkämpfte Identität dahinfahren zu lassen. Und bleibt unendlich einsam in ihrer Entscheidung.

Von Annie Ernaux ist auch in diesem Buch zu lernen, wie jemand das eigene Ich und dessen Vergangenheit mit Respekt, aber ohne Idealisierung und Sentiment einholen, ja begreifen kann.