Dortmund. Einstand nach Maß: Dortmunds neuer Residenzkünstler Lahav Shani trat im Konzerthaus an. Er, Hilary Hahn und Rotterdams Philharmoniker rissen mit.
Von einem tiefen Blick zu reden, reicht hier nicht aus. Der Dirigent Lahav Shani muss sich lange und gründlich in die Partitur versenkt haben, um die 1. Sinfonie von Johannes Brahms in all ihrer Komplexität zu erfassen. Wie wachsam er auch zwischen den Zeilen liest, zeigte sich jetzt im Konzerthaus Dortmund. Mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra gab er dort seinen Einstand als Residenzkünstler.
Auf den sanglichen Klang dieses Spitzenorchesters, der sich üppig und orgelgleich über dunklen Bässen auffächert, greift Shani mit großer Gelassenheit zu. Seine Brahms-Deutung wird zum Ereignis, weil sie die Quadratur des Kreises schafft: Sie ist rund und zuweilen ruppig, friedvoll und rastlos, voller Kraft und ätherisch zart. Ausbrüche bleiben inwendig, vibrieren aber vor Energie, als balle jemand die Faust in der Tasche.
Lahav Shani stellte sich als Residenzkünstler in Dortmund Konzerthaus vor
Alle Gegensätze vereinen sich zu einem unwiderstehlichen Strom von Musik. Die Sinfonie, oft als „Beethovens Zehnte“ tituliert, gleicht bei Shani einem Fingerzeig in Richtung Bruckner. Mag manches auch beinahe zu balsamisch ineinanderfließen, behält Shani doch stets die großen Linien im Blick. Indem er Vieles organisch wachsen lässt, statt es mit Druck voranzutreiben, erweist er sich als Erbe seiner Mentoren Zubin Mehta und Daniel Barenboim.
Wie wendig das Orchester aus Rotterdam agiert, zeigt sich zu Beginn in Jörg Widmanns Konzertouvertüre „Con brio“, die mit Versatzstücken aus Beethoven-Sinfonien spielt. Die schnellen Bewegungstypen werden hier zu einer amüsanten Achterbahnfahrt fürs Ohr. Geräuschhafte Atemlaute und perkussive Elemente jagen einander: ein rasanter Ritt, trotz aller Effekte geistvoll und sogar sinnlich.
Phänomenale Solistin: Hilary Hahn begeisterte mit Dvořáks Violinkonzert
Zu allem Überfluss trumpft dieser Abend mit einer phänomenalen Solistin auf. Hilary Hahn spielt das Violinkonzert von Antonín Dvořák mit der ihr eigenen, kristallinen Tongebung und unfehlbarer Intonation. Die Amerikanerin gehört zu dem kleinen Kreis von Auserwählten, die jede technische Schwierigkeit ihres Instruments zum Verschwinden bringen. Mit dem Violinspiel haben ihr rhythmisches Feuer, ihre beredte Phrasierung, ihre silberfein und girlandengleich aufsteigenden Dreiklänge nur mehr wenig zu tun. Hilary Hahn ist eine begnadete Musikerin, ihr Spiel macht ebenso herzensfroh wie vor Staunen stumm. Das Publikum dankt ihr mit frenetischem Applaus.
Lahav Shani, dem eben angetretenen Residenzkünstler des Konzerthauses, widmen wir in einer unserer nächsten Ausgaben ein großes Interview