Essen. Sprengkraft des Schweigens: Susanne Abel legt mit „Was ich nie gesagt hatte. Gretchens Schicksalsfamilie“ eine Fortsetzung ihres Bestsellers vor.

Sie sei ein „Recherche-Junkie“, sagt Susanne Abel über sich. Mit ihrem Debüt „Stay Away From Gretchen“ landete die Kölnerin gleich einen Bestseller. Seit 71 Wochen steht der Titel auf der Spiegel-Bestsellerliste. Das schafften nicht mal Stephen King oder John Grisham mit ihren letzten Büchern. Die tragische Geschichte von Gretchen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtling nach Heidelberg kommt, sich in einen schwarzen GI verliebt und ihr Kind in ein Heim abgeben muss, traf einen Nerv. Szenen wie die, in der eine ältere Frau auf der Straße Gretchen in den Kinderwagen spuckt, weil das Baby darin eine dunkle Hautfarbe hat, zeichnen ein erschütterndes Bild von der alltäglichen Diskriminierung im Deutschland der 50er-Jahre und haben sich tief eingebrannt.

Dass der Roman ein so großer Erfolg wird, davon hätte die 1971 im südbadischen Kehl-Kork geborene Susanne Abel, die als Erzieherin arbeitete und eine Ausbildung zur Puppenspielerin machte, bevor sie als Autorin und Regisseurin beim Fernsehen landete, nicht mal zu träumen gewagt. Bei ihren Recherchen hatte sie so viel Stoff zusammengetragen, dass sie gar nicht alles verarbeiten konnte. Ein zweites Buch zu schreiben war gar nicht geplant. Aber wenn man schon so viel im Block stehen hat…

„Was ich nie gesagt hatte. Gretchens Schicksalsfamilie“ stürmt die Bestsellerliste

Mit „Was ich nie gesagt hatte. Gretchens Schicksalsfamilie“ gibt es jetzt also die Fortsetzung. Auch die stürmt schon wieder die Bestsellerliste. Während im ersten Roman mit Greta die Mutter des TV-Moderators Tom Monderath im Mittelpunkt stand, ist es im zweiten Band nun dessen Vater Konrad.

Wie es sich beim Vorgänger bewährt hat, erzählt Susanne Abel die Geschichte in zwei alternierenden Handlungssträngen. Der eine spielt in den Jahren 2016 bis 2018 und zeichnet die Gegenwart Tom Monderaths nach, der auf der Suche nach seiner Halbschwester Marie vom Ahnenforschungsportal erfährt, dass er noch weitere Halbgeschwister besitzt. Neben Marie, die als „Mischlingskind“ Gretchen weggenommen und im Zuge des „Brown Baby Plans“ zu Adoptiveltern in die USA verschickt wurde, taucht noch ein Holländer namens Henk von Dongen auf. Zunächst will Tom von seinem Halbbruder nichts wissen. Zumal der auch noch homosexuell ist. Als der aber nicht locker lässt, beginnt Tom mit Lebensgefährtin Jenny zu recherchieren. Und sie stoßen auf unglaubliche Dinge. Ging Toms Vater Konrad, den Gretchen heiratete, nachdem der GI Robert Cooper aus den USA nicht zurückkam, etwa fremd? Als Gynäkologe hätte er genügend Möglichkeiten dazu gehabt.

Authentisch und getragen von Empathie

Der zweite Handlungsstrang, der die Jahre 1933 bis 1997 umfasst, blickt zurück und stellt Toms Vater ins Zentrum. Authentisch und getragen von Empathie erzählt Susanne Abel, wie Konrad als Junge mit ansehen muss, dass seine am Downsyndrom erkrankte Schwester Lizzy im Zweiten Weltkrieg nicht in den Luftschutzbunker darf, weil das Kind „einem gesunden Menschen die Luft zum Atmen nehmen“ würde. Später wird sie in der Landesanstalt für Jugendpsychiatrie in Bonn euthanasiert. Die Eltern erreicht ein Schreiben, sie sei an Masern gestorben. Einem Rat seines Onkels Drickes folgend, der an der Seite Carl Claubergs Zwangssterilisationen im KZ Auschwitz-Birkenau unternommen hat, studiert Konrad nach dem Krieg in Heidelberg Medizin, wo er Gretchen kennenlernt.

Teilweise erzählt Susanne Abel die gleichen Szenen wie im ersten Roman, nur aus einer anderen Perspektive. Das macht einen Reiz des neuen Buches aus, das erneut exzellent recherchiert ist, historisches Geschehen aufgreift und gekonnt in einen Roman verwandelt. Im Grunde hat Susanne Abel das gleiche Buch noch einmal geschrieben. Aber sie hat einen neuen Dreh und ein neues Thema gefunden, in dem sie diesmal nicht von Brown Babys erzählt, sondern von Kindern, die durch eine künstliche Befruchtung gezeugt ihr Leben lang nicht erfahren, wer ihre wirklichen Väter sind.

Susanne Abel: „Zerstörerische Sprengkraft des Schweigens“

Von der „zerstörerischen Sprengkraft des Schweigens“ spricht Susanne Abel in ihrem Nachwort. Wie das mit Konrad und seiner Gynäkologischen Praxis zusammenhängt und was für Abgründe sich auftun, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel: Es gibt einen Grund dafür, warum Tom nie eine echte Beziehung zu seinem Vater Konrad aufbauen konnte und die beiden sich immer fremd geblieben sind.

Mit dem zweiten Band wird die Geschichte um Gretchens Familie abgerundet und zu Ende erzählt. War’s das? „Es wird sicher weitere Bücher geben“, klärt Susanne Abel auf. „Allerdings mit neuen Personen und anderen Themen“.

Susanne Abel: Was ich nie gesagt habe. Gretchens Schicksalsfamilie. dtv, 560 Seiten, 23 Euro, 978-3-423-29023-4