Medebach/Kassel. Überflüssig, gefährdet, kaputt? Warum Christoph Hesse aus Medebach-Referinghausen solche Objekte für die Documenta in Kunst verwandelt.

Die sauerländische Fichte wurde 125 Jahre alt und 39 Meter hoch. Dann hat der Klimawandel sie gefällt. Jetzt erfährt sie ein zweites Leben als Kunstinstallation im „Ekosistem“, dem Netzwerk der Documenta 15 in Kassel. Der Architekt und Künstler Christoph Hesse aus Medebach-Referinghausen hat aus dem zersägten Stamm in der Karlsaue eine Stelen-Installation aus Holzstämmen gestaltet, einen Reflecting Point. Der Kreis schließt sich. Denn Hesses Urgroßmutter Maria hatte den Baum im Jahr 1896 in Referinghausen gepflanzt.

Die Arbeiten von Christoph Hesse lassen sich nicht ohne weiteres in Schubladen stecken. Sie gehören im weitesten Sinne zur Land Art, sind also Kunst, welche mit dem landschaftlichen und sozialen Raum interagiert. Gleichzeitig thematisieren die Installationen Verwandlungsprozesse. Sie nehmen etwas Überflüssiges, Kaputtes, Gefährdetes oder Aufgegebenes und transformieren es in einen neuen Aggregatzustand. Für die Documenta 15 hat Hesse zusammen mit der Architektin Barbara Ettinger-Brinckmann als Teil der BDA-Gruppe Kassel insgesamt vier von acht Reflecting Points entworfen, Orte, die nicht nur Kunst sind, sondern auch eine soziale Realität entwickeln sollen.

Lokale Akteure einbezogen

Christoph Hesse hat in den vergangenen Jahren mit den Open Mind Places viel beachtete Kunstinstallationen in seinem Heimatort Referinghausen geschaffen, die er auch bei einer Ausstellung im Kasseler Architekturzentrum vorstellte. „Die Documenta-Kuratoren, die Künstlergruppe Ruangrupa, haben sich das angeschaut, und daraus ist die Idee entstanden. Die Einbeziehung lokaler Akteure gehört zum Konzept des ,Ekosistems‘. Dieser Begriff beschreibt abgeleitet von Ökosystem kollaborative Strukturen, durch die Wissen, Ressourcen, Ideen und Programme geteilt und vernetzt werden.“

Jeder Reflecting Point hat eine kleine Botschaft. Es geht um nachhaltiges Bauen, um Baustoffe der Zukunft und um Energie aus der Vergangenheit. Zum Beispiel beim Kohlemuseum am Friedrichsplatz. Der begehbare Kubus besteht aus aufgestapelten Kohlebriketts. Darin hat Hesse Bambus gepflanzt. „Die regenerative Kraft der Pflanzen löst das alte Karbon-Zeitalter ab“, erläutert er.

Urformen der Behausung

Hesses Installationen funktionieren als geometrische Körper im Raum, im Falle des Reflecting Points 4 „Kollektiv“ in der Karlsaue sogar aus übereinander gestapelten Linien, die dem Auge immer andere faszinierende Fluchtpunkte bieten. Es handelt sich um Hordengatter, die in der Forstwirtschaft eingesetzt werden, um Bäume vor dem Verbiss durch Rehe zu schützen. Wenn sie ihre Funktion erfüllt haben, zerfallen sie und werden zu Kompost. Im Reflecting Point 3 „Karlsauge“ werden Holzscheite gestapelt, Restholz von Bahnschwellen. Das reflektiert Nachhaltigkeit, ökologisch sinnvolle Forstwirtschaft, natürliche Baumaterialien, aber mit den Installationen passiert jenseits dieser vordergründigen Ebene noch mehr. Es entwickeln sich archaische Formen, die an uralte Tempel erinnern oder an Schutzräume. Christoph Hesse: „Man macht Form zu Körpern, die Behausung schaffen. Es handelt sich um Urformen, ganz auf das Wesentliche bezogen.“

Körper, die Behausung schaffen, erfüllen eine weitere Funktion: Sie ermöglichen Kommunikation. Dieser Aspekt ist für Christoph Hesse wesentlich. Denn ein Künstler vermag es zwar, Käferholz in ein Kunstwerk zu verwandeln, aber bei diesem Prozess fehlt der Transformation noch etwas Entscheidendes: die Interaktion mit den Betrachtern. Ob das, was er sich vorgestellt hat, am Ende aufgeht, weiß ein Künstler natürlich vorher nicht.

Das Publikum macht mit

Bei der Documenta funktioniert es gut. Passanten werden Teil der Kunstwerke, sie gießen die Pflanzen im Kohlemuseum. Sie haben Hesse und seinem Team geholfen, die Ritzen des „Karlsauges“ mit Laub auszustopfen, so dass die Installation inzwischen auch ein gut angenommenes Insektenhotel ist. Und sie beginnen nun, kleine Botschaften, die sie auf Zettel geschrieben haben, in den Ritzen zu hinterlassen, wie man es aus fernöstlichen Andachtsschreinen kennt. Darüber freut sich Christoph Hesse sehr. „Gesellschaftliches Umdenken entsteht durch Perspektivwechsel, das kann Kunst anregen.“

Die sieben Stelen der Installation „Maria“, die Hesse seiner Urgroßmutter gewidmet hat, ragen in den blauen Himmel wie die Dolmen von Stonehenge. Was so urzeitlich und überzeitlich anmutet, ist gleichzeitig ein Ausdruck von regionaler Verwurzelung und Verbundenheit. Und von Verletzlichkeit, es ist ja Käferholz. „Ein Kunstwerk muss ein Geheimnis haben, einen Raum für das Weiterdenken. Bei Maria geht es um den gerichteten Blick auf die Weite. Dabei geht es nicht nur um die räumliche Weite, das hat auch eine zeitliche Dimension.“