Kassel. Die Documenta 15 besteht zwar auch aus Werken, vor allem aber aus Prozessen, Handlungen, Unterrichtung und Aktivierung – Ruangrupa wollte es so.
Die Documenta entwickelt sich immer weiter weg von jenem Kunst-Nachhilfeunterricht für die von Nationalsozialismus und seinen Blut-und-Boden-Machwerken verblendeten Nachkriegsdeutschen. Über die Jahre wurde die Documenta dann zu einem Spiegel der Weltkunst – und heute begreift sich das Drei-Monats-Kind der Kunst als deren Taktgeber, Avantgarde der Avantgarde sozusagen. Das bedeutet im aktuellen Falle die Entwicklung der Kunst zu einer Mischung aus globaler Sozialarbeit und konkreter Politik mit künstlerischem Anstrich.
Dass die sinnliche Erfahrung als ureigene Kommunikationsstrategie von Kunst dabei schon mal ins Hintertreffen geraten kann, wird der guten Absicht zuliebe in Kauf genommen. Kunst kommt immer weniger von können und immer mehr von Kommunikation. Oder von kann man mal machen. Es fehlt das Unbedingte, das Fest, das den Alltag übersteigt, das Hochamt, das die Kunst auch sein kann.
Kein Ai Weiwei, keine Hito Steyerl, keine Anne Imhof
Das alte Leitbild vom Künstler als Originalgenie habe jedenfalls ausgedient, hieß es schon im Vorfeld der Documenta 15, die am Samstag von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eröffnet wird. Mit dem Unterschied, dass dieser bewährte Avantgarde-Slogan diesmal in die Wirklichkeit umgesetzt ist. Also gibt es keinen Ai Weiwei (der ja schon 2007 mit seinem sturmzerzausten Turm der Türen hier war), keine Anne Imhof und kein Andreas Gursky. Stattdessen hat das indonesische Kollektiv Ruangrupa (zusammengesetzt aus den dortigen Worten für „Kunst“ und „Raum“) weitere Kollektive und Einzelpersonen in aller Welt, vor allem aber im globalen Süden, damit beauftragt, etwas für die Documenta zu erarbeiten.
Dieses „Etwas“ verflüssigt sich immer mehr zu Prozessen, Ereignissen, Konstellationen, Engagement – wirkliche Werke zum Staunen, zum Sehen, Schauen, Wundern, Ärgern werden immer seltener. Und für Kuratoren, also diejenigen, die sonst Kunstausstellungen machen, auswählen, definieren, gibt es in der Documenta-Halle die Parole: „Go Home!“
Früher Karstadt Sport, heute „Lumbung“ im Ruru-Haus zum Willkommen der Besucher
Im Zentrum der Ruangrupa-Ideen für Kassel steht „Lumbung“, das indonesische Wort für eine Reisscheune, in der die Überschüsse der jeweiligen Ernte gelagert werden, um anschließend unter denen, die es brauchen, verteilt zu werden. Man kann es sich vielleicht so ähnlich vorstellen wie eine germanische Allmende-Wirtschaft unter südlicher Sonne. Aber wichtig ist Ruangrupa nicht das Konzept, sondern die Praxis – mit „lokaler Verankerung, Humor, Großzügigkeit, Unabhängigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration.“
Etwas davon ist bereits zu spüren im „Ruru-Haus“, das als „Wohnzimmer Kassels“ in einer ehemaligen Karstadt-Sportarena am Rande des zentralen Friedrichsplatzes eingerichtet wurde: Als warmherziges Willkommensgebäude für alle Documenta-Besucher, als Kontaktbörse, Diskussions- und Begegnungsort mit gelungenen Aufenthaltsqualitäten, wie man heute so sagt.
Friedericianum mit Teestubenatmosphäre und „Abgoriginal-Botschaft“
Und auch im Friedericianum, wo man im Gründungsjahr 1955 von Lehmbrucks „Kniender“ empfangen wurde, stehen heute Broschürenständer, an der Wand ein Agitationsbild der doppeldeutig zu verstehenden „Aboriginal-Botschaft“. Rechts geht es zu einer Mischung aus Jugendzentrum und Teestube, wo man lernt, dass „Nonkrong“ das indonesische Wort für „Abhängen“ ist und selbiges an Ort und Stelle gleich in die Tat umsetzen kann. Linkerhand bietet sich praktischerweise ein „Aktivitätspaket“ für Kinder zwischen fünf und zehn Jahren.
Künstlerischer im ursprünglichen Sinne geht es dann in der Documenta-Halle zu, in die man durch eine Art Bergwerks-Stollen hineingelangen kann, der eine beklemmende Installation über diktatorische Unterdrückung ist – und in eine Überdachung aus Wellblechen mündet. Überhaupt: Weiter hinten die beeindruckende Raumarbeit des kubanischen Fotografen Ángel Delgado, der eine weltkarten-artige Liste von zensierten Intellektuellen in Kuba zwischen 1959 (dem Jahr der Revolution) und 2022 an die Wand hat malen lassen. Darunter: lebensgroße Foto-Köpfe dieser Intellektuellen, die als eine Art Fingerpuppen für Riesen gestaltet sind.
„2050 wird mehr Plastik als Fisch in den Meeren sein“
Noch weiter hinten warten Fische, auf deren Leiber so etwas gedruckt steht wie „10 Millionen Tonnen Plastik jedes Jahr mehr in den Ozeanen“ oder „2050 wird mehr Plastik als Fisch in den Meeren sein“. Hinter einer in Urban-Art-Manier besprühten Skater-Wanne zwei riesige Lichtkunstwerke aus weißen Neon-Röhren und schwarzen Stäben davor, die durch unablässiges Kreisen immer neue grafische Bilder erzeugen. Jedenfalls eine Zeit lang.
Am Ende der Halle wartet Kino aus Afrika, die Gruppe „Wakaliwood“ aus Ghana hat B- und C-Filme voller Action, Komik und Politik in ironisierter Hollywood-Manier gedreht, unter Titeln wie „Wer tötete Captain Alex“, „Football-Kommando“ oder „Einmal eine Soja“. Wie bei der Documenta ist ein erholsamer Gang durch die Karlsaue zu empfehlen, wo zwar keine spektakulären Werke wie einst der sturmzerzauste Turm der Türen von Ai Weiwei warten, aber beschauliche Komposthaufen und kleine Gewächshäuser, in denen Gartenkultur praktiziert wird.
Die 7000 Eiche des Joseph Beuys sind 40 Jahre alt und werfen wohltuenden Schatten
und seinen 7000 An hochsommerlichen Tagen ist man heute in Kassel umso beglückter, die nächste jener 7000 Eichen zu erreichen, die Joseph Beuys hier vor 40 Jahren pflanzen ließ (von denen übrigens einige Platanen sind, die den Klimawandel noch besser vertragen) – jeder Basaltstein neben einem Stamm ist ein Argument für Kunst, „die nicht an die Wand gehört, sondern in die Mitte der Gesellschaft“. Der einst so revolutionäre Satz hat es allerdings heute auch schon auf die Werbeplakate der Kasseler Sparkasse geschafft.