Gelsenkirchen. Es ist die erste Eigenproduktion des Puppentheaters im MiR – und durchweg modern gehalten: Es geht um das Ich in Zeiten digitaler Einflüsse.
Das Musiktheater im Revier (MiR) schlägt einen neuen Weg abseits von Oper, Musical oder Kinder- und Jugendtheater ein. Heinrich von Kleists „Amphitryon“ in der Regie von Nis Søgaard ist die erste Eigenproduktion des MiR-Puppentheaters, die sich ausschließlich an Erwachsene richtet. Wegen zweimaliger Verschiebung des Premierentermins kam das vielschichtige Lustspiel, das eher eine metaphysisch verrätselte Tragikomödie ist, zufällig an jenem Tag (8. April) auf die Kleine Bühne des Hauses, an dem das Werk vor 123 Jahren in Berlin uraufgeführt wurde.
Jupiter (Karoline Hoffmann) übernimmt in Gestalt des Thebaner Feldherrn Amphitryon (Daniel Jeroma) für kurze Zeit die Rolle des Gatten der schönen Alkmene (Johanna Kunze); derweil verwandelt sich Götterbote Merkur (Sebastian Schiller) in den Doppelgänger des Sosias (Merten Schroeter) und hält Amphitryons Diener von Küche und Bett der Charis (Gloria Iberl-Thieme) fern. In Jelena Nagornis trefflicher Ausstattung mit den chromsilbernen Gerüsten und mobilen Podien, die in ihrer Multifunktionalität an antike Prachtbauten ebenso erinnert wie an moderne Show-Bühnen, nimmt das verzweifelte Ringen um die eigene Identität seinen bildgewaltigen Verlauf.
Exzellentes Art-Pop-Duo aus Berlin: „We Will Kaleid“
Das exzellente Berliner Art-Pop-Duo „We Will Kaleid“ stützt und verstärkt dabei den Show-Spiel-Charakter der Inszenierung durch eine atmosphärische Untermalung, die vorwiegend auf rhythmusgeprägte elektronische Sounds setzt und gelegentlich vor chilliger Lounge-Musik nicht zurückschreckt. Leider überdeckt die fast durchgängige Bühnenmusik aber auch oft das gesprochene Wort; das Verständnis der Entwicklung der Geschichte wird gerade dann unnötig erschwert, wenn die Erzählung sich leicht von Kleist entfernt.
Die vier menschlichen, die „originalen“ Figuren, opulent und in knalligen Farben ausstaffiert, tragen Masken, die von Beginn an von Schein künden, nicht von Sein. Ihre göttlichen Pendants wiederum sind Puppen, nicht annähernd so gewaltig und raumgreifend, wie man es von den Beiträgen des Puppentheaters etwa zum fulminanten Weihnachtsoratorium kennt, sondern von drei „Pagen“ grandios geführte Figürchen in Kinderformat, die ihre fast farblose, marmorgraue Kontur hinter identischen Masken verbergen. Sie sind, als Projektionsflächen von Amphitryon und Sosias, kaum mehr als Schein-Riesen, die erst durch überzogenes Selbstverständnis und Fremdwahrnehmung Größe und Bedeutung erlangen.
Wenn „Likes“ das Selbstwertgefühl bestimmen
Was geschieht, wenn man den eigenen Augen und dem eigenen Innern nicht mehr trauen kann, wenn - zumal in unserem digitalen Zeitalter, in dem viel zu oft die Anzahl der „Likes“ über Ich und Selbstwertgefühl bestimmt – Identität zunehmend durch Außensicht bestimmt wird? Welche Rolle spielen Erwartungen, eigene und fremde? Und was passiert mit diesem überzogenen Ich, wenn die Fremdbestätigung ausbleibt?
Wenn sich die Götter, die man eher als falsche Ideale oder Manifestationen einer irregelaufenen Selbstsicht sehen sollte, schließlich offenbaren, wenn ihnen die Maske abgenommen werden, dann folgt hier kein Aufstieg in den Olymp. Die nunmehr gesichtslosen Puppen fallen in sich zusammen – inhaltslose Hüllen, die von den Pagen rasch entsorgt werden. Und Herkules, der aus der Beziehung zwischen Alkmene und Jupiter-Amphitryon hervorgegangen ist, erscheint in Gestalt einer neuen, größeren Kinder-Puppe, deren Maskengesicht noch formbar ist. Und so verzichtet Alkmene auf den berühmtesten Schluss-Seufzer der Literaturgeschichte, auf ihr „Ach“.
Termine: 18. u. 24. April; 15. Mai (jeweils 18 Uhr); 14. u. 28. Mai (19.30 Uhr). Karten unter Tel. 0209-4097200 oder per E-Mail: theaterkasse@musiktheater-im-revier.de