Gelsenkirchen. In Gelsenkirchen ist „Otello“ zu entdecken: Starke Sänger und eine packende Inszenierung von Manuel Schmitt bescheren einen großen Abend.
Lange ehe „Die drei Tenöre“ ein kurioser Markenartikel des Opernbetriebs werden sollten, schenkte Gioachino Rossini einem vergleichbaren Trio ein seinerzeit vielbestauntes Werk. Die Mordspartien hießen Rodrigo, Iago und – Otello. Wenn bei Ihnen, liebe Opernfreundinnen und -Freunde jetzt außer Shakespeare und Verdi wenig klingelt, ist das nicht weiter besonders. Rossinis 19. Oper lag zwischen Knallern wie „Barbier“ und „Cenerentola“; wir wissen, wer im Repertoire überlebt hat.
Wir erinnern uns jedenfalls nicht, dass die Häuser an Rhein und Ruhr in den letzten 50 Jahren einen Wiederbelebungsversuch gemacht hätten. Das ist seit Samstag anders, das Musiktheater im Revier wagt – und gewinnt. Es fallen glücklich zusammen: ein hohes musikalisches Niveau und eine Inszenierung, die Längen der fast in Vergessenheit geratenen Oper clever minimiert.
Zur Erinnerung: Der „Sohn Afrikas“ taugt der Großmacht Venedig, ihr Feinde vom Hals zu fechten. Dass sie ihn einen der Ihren nennt, bleibt Lippenbekenntnis, ganz zu schweigen von der Schmach, Otello mit der weißen Desdemona im Ehelager zu sehen. Solchen Stoff kann der junge Mülheimer Regisseur Manuel Schmitt (der 33-Jährige bescherte dem MiR schon mit Bizets „Perlenfischern“ einen Hit) 2021 allein hochpolitisch verhandeln.
Manuel Schmitts Regie vergrößert die Tragödie auf ein gesamteuropäisches Drama
Schmitts Regie vergrößert die Beziehungstragödie, in der am Ende manipulierte Eifersucht Otello zum Mörder macht, auf ein gesamteuropäisches Drama der Unmenschlichkeit. Vom Venedig der Dogen steht in Julius Semmelmanns Bühnenbild nur noch die Ahnung eines Portals. Es regiert ein stahlgetragener Glasbau neuester Sachlichkeit. Er wird Konferenzraum, Ruhmeshalle und Museum, in dem Géricaults „Floß der Medusa“ und Manets „Olympia“ (mit schwarzer Sklavin) ein ästhetisches Echo zur Lage der Nationen sind.
Über allem in riesigen Lettern: „In Varietate Concordia“. In der Vielfalt vereint? Worte, nichts als Worte! Später schützen Überwachungskameras und Stacheldrahtrollen die Elite. Wo anfangs Otello von der weißen Gesellschaft formal noch Ehre erfährt, baut Schmitt früh die prophetische Ebene des Surrealen ins Geschehen. Kindgroße Miniaturen der Herrscherkaste, kleine graue Herren, provozieren den Afrikaner mit Bananen. Gern würde man allzu dicke Regie-Tusche attestieren, wüsste man nicht, wie unverhohlen der Rassismus unserer Tage solche Fratzen zeigt.
Zugegeben: Manuel Schmitt hat nicht selten einen Hang zum Hyperaktiven, mitunter wird zu druckvoll, überdeutlich illustriert. Doch ist das ein fairer Preis für einen Abend, der uns keinen Moment aus der Spannung entlässt. Die im Vorfeld üppig bekundete Originalität namens Mitmach-Theater kann man indes getrost beiseite legen. Per Karte bestimmt das Publikum über den Ausgang – ein zu vernachlässigendes Mätzchen. Raffinierter versöhnt die Regie Katastrophe und jene Kulinarik, die dem Belcanto nun einmal innewohnt. Desdemonas letzte Arie erklingt in Trümmern, über dem Leid aber schwebt der Himmelsklang einer auf der Galerie platzierten Harfe. Wie hässlich die Welt! Wie schön die Musik!
Überragend Rina Hirayamas Desdemona: vokale Seelenkunde, dramatisches Charisma
Der Jubel am Ende war einhellig. Überragend Rina Hirayamas Desdemona: vokale Seelenkunde trifft dramatisches Charisma. Adam Temple-Smith’ Iago singt einen faszinierend süßschneidigen Rossini-Schurken, Benjamin Lee (Rodrigo) schultert elektrisierend die monströsen Koloraturen von Otellos Rivalen. Der Titelheld lässt in den Spitzentönen leichte Nervosität hören, dafür betört Khanyiso Gwenxanes Otello mit dem edelmattierten Timbre des gebrochenen Helden.
Schon in der Ouvertüre ließ die Neue Philharmonie Westfalen aufhorchen. Ihr Rossini, dirigiert von Giuliano Betta, malt die Palette vom pastosen Seufzer bis zu schillerndem Pomp farbensatt aus.
Die Opernsaison ist noch jung, aber ihre bislang bemerkenswerteste, ambitionierteste Premiere ist mit diesem „Otello“ gelungen. Lassen Sie ihn sich nicht entgehen!