Essen. In ihrem neuen Roman „Nebenan“ verdichtet Kristine Bilkau die gegenwärtige Welt auf ein Dorf – und seziert dabei gesellschaftliche Prozesse.

In Kristine Bilkaus viel gepriesenem Debüt „Die Glücklichen“ las Protagonist Georg Immobilienanzeigen wie andere Leute Romane: voller Sehnsucht, voller Fantasie, sich hineinträumend in ein besseres Leben für sich und seine Familie. Das ist jetzt sieben Jahre her. In Kristine Bilkaus neuem Roman hat ein Paar – Julia und Chris – das ersehnte Haus gefunden, in einem kleinen Ort am Nord-Ostsee-Kanal, sie haben Tapeten abgerissen und Dielen abgeschliffen. Aber zu ihrem Glück fehlt noch ein Kind.

Warum ist es nie perfekt, warum kreisen so viele Leben um Leerstellen? Bilkau, Jahrgang 1974, ist Journalistin und Schriftstellerin und „lebt mit ihrer Familie in Hamburg“, so steht es im Klappentext. Und eben diese floskelhafte Verortung durchbricht sie mit ihrer Prosa; meisterlich nimmt sie Lebensträume auseinander, vermisst die Gegenwart und vor allem den gesellschaftlichen Mittelstand, der zwischen Selbstverwirklichung und Selbsttäuschungen schwankt.

Sie bemühen sich um die Nachbarn

Julia also ersehnt ein Kind, sucht mit Chris Hilfe in einer Kinderwunschklinik und hängt an die Pinnwand ihres kleinen Töpferladens im Städtchen ein Ultraschallbild der eingesetzten Eizellen. Julia und Chris, sie haben doch alles richtig gemacht, oder? Sie sind aufs Land gezogen, sind „dem Geflecht aus Bedingungen“ entkommen, „wir haben es geschafft, wir sind raus“, sagt Chris. Julias Arbeit im Einkauf eines Versandhandels war sinnfrei, erstickend. Und Chris, Biologe, kann sich nun um das Plastik am Strand kümmern; sogar am Wochenende nimmt er mit einer Drohne die Missetaten auf. Sie erledigen die Einkäufe mit dem Fahrrad, bemühen sich um die Nachbarn.

Nur sind die eines Tages verschwunden: Nach den Weihnachtsferien kommt eine Familie nicht wieder, in der Küche vertrocknen die Kräuter, der Briefkasten quillt über. Die verschwundene Familie ist Sinnbild für die Leerstelle im Leben nicht nur von Julia, sondern von drei weiteren Frauen, deren Wege sich kreuzen. Die hochbetagte Elsa wohnt gegenüber, ihre Nichte Astrid ist Hausärztin in der Kreisstadt – und war einst gut befreundet mit Nachbarin Marli, bis diese sich aus unerklärlichen Gründen zurückzog. Und dann ist da noch ein Kind, das plötzlich im Garten der Verschwundenen steht und rätselhafte Botschaften auf Zetteln versteckt.

Überraschend heutig und handfest

Rätselhaft: Ja, das ist dieser Roman auch. Andererseits auch überraschend heutig und handfest, wenn es etwa um die leeren Geschäfte in der Kreisstadt geht, um ein Kaufhaus, das abgerissen wird, eine Bürgerversammlung – oder um die Details einer künstlichen Befruchtung. Kristine Bilkau ist eine Autorin, die sehr genau hinschaut, die gesellschaftliche Prozesse seziert und die Ergebnisse ihrer Analysen ganz beiläufig unterbringt.

Julia, die Kunstgeschichte studiert hat, bemerkt die vielen Kunstdrucke mit Mutter-Bildern im Wartezimmer der Klinik, fühlt sich auf subtile Weise belästigt, sieht die Kunst benutzt und beschmutzt – und dabei belässt Bilkau es. Ist Julias Kinderwunsch ein Produkt des Bildes, das sie von sich hat, das andere von ihr haben? Das bleibt so offen wie das Rätsel um die verschwundenen Nachbarn.

Kristine Bilkau: Nebenan. Luchterhand, 288 S., 22 Euro.