Essen. Die Verlierer der Corona-Krise waren Kinder und Frauen, schreiben die Journalistinnen Silke Fokken („Krisenkinder“) und Sabine Rennefanz.
An der Vorhersage des ehemaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn schon zu Beginn der Corona-Pandemie, dass „wir in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen“, war allenfalls der zeitliche Rahmen falsch. Es sind Jahre geworden. Inzwischen ist das Abflachen der Pandemie keineswegs garantiert, aber immer wahrscheinlicher geworden. Politik und Gesellschaft sollten nun vom gewiss notwendigen Verzeihen ins noch notwendigere Verändern übergehen, sollten Konsequenzen aus Erkenntnissen und Fehlern gezogen werden. Das reicht vom Gesundheitssystem, dessen verheerende Ökonomisierung (Personalkürzungen bis zur Schmerzgrenze und Unterbezahlung) es immer anfälliger für Krisen gemacht hat, über haarsträubende Unsinnigkeiten der föderalen Staatsstruktur und digital unterbelichtete Behörden bis zur flächendeckenden Versorgung mit schnellem Internet.
Allerdings hat niemand in dieser Dauerkrise so viel zu verzeihen wie Kinder, Jugendliche und Frauen. Dies versuchen zwei neue Sachbücher aufzuzeigen, die in Kürze erscheinen. Silke Fokken, Bildungsredakteurin beim Nachrichtenmagazin „Spiegel“, zeichnet in „Krisenkinder“ sehr differenziert nach, welche Schäden die Ängste und Sorgen junger Menschen rund um das Virus, vor allem aber Schul- und Kita-Schließungen, Kontaktverbote sowie Home-Schooling angerichtet haben.
Kinder und Jugendliche hatten in den Entscheidungsrunden von Ministerpräsidenten und Kabinetten so gut wie keine Fürsprecher, ihre Interessen standen hintenan; die meisten zeigten sich aber solidarisch, hielten sich an die meisten Regeln, verzichteten auf Freunde, Freizeitvergnügen und Entwicklungsmöglichkeiten, ohne dass dies je so recht anerkannt worden wäre.
Neue Veranstaltung „Les-Art“ in Essen gilt Kindern in der Corona-Krise
Bei manchen wuchs allerdings auch der (Klassen-)Zusammenhalt, als sie sich nur noch im Internet begegnen konnten. Chatrunden, geteilte Hausaufgaben gemeinsame Videospiele – manche blieben aber auch dauerhaft im Netz hängen.
Und in der Schule taten sich krassere Unterschiede denn je auf: Ein Abiturient in Sachsen verpasste manchmal nur wenige Wochen Präsenzunterricht, eine Siebtklässlerin in Hamburg konnte allein im zweiten Lockdown fast ein ganzes Schulhalbjahr zu Hause bleiben. Silke Fokken führt unter ihren vielen Beispielen auch junge Menschen an, die von der Pandemie profitiert haben – meist Kinder aus wohlhabenden, bildungsbewussten Familien. „Ein großer Teil der Kinder und Jugendlichen wird halbwegs unbeschadet aus der Krise kommen“, so das Fazit.
Ganz anders ergeht es den meisten der 2,8 Millionen Kinder, die in Armut leben. Corona verschlimmerte ihre Bildungssituation, in monatelangen Schulschließungen verpassten sie teilweise monatelang den Unterricht, entzogen sich den Lehrern. Ihre Zugangsmöglichkeiten zum Distanzunterricht per Internet (auf den ja auch die Lehrkräfte nicht vorbereitet waren) waren auch oft beschränkt, je nach WLAN-Qualität und Arbeitsgerät. Mitte Mai 2020 stellte der Bund 500 Millionen Euro zur Anschaffung von Laptops und Tablets zur Verfügung, die Schulen verleihen sollten. Als „Soforthilfe“, die den Städten und Gemeinden fast drei Monate nach Beginn der Schulschließungen zur Verfügung stand. Ein Jahr später war das Geld immer noch nicht vollständig abgerufen.
Corona hat vorhandene Ungerechtigkeiten im Bildungsbereich noch vertieft
Fatalerweise werden auch die Angebote, verpassten Lehrstoff aufzuholen, von Kindern aus bildungsfernen Familien seltener angenommen – aber dieses Phänomen war auch schon vor der Pandemie daran abzulesen, welche Kinder Nachhilfe in Anspruch nehmen, unabhängig davon, ob sie bezahlt werden muss oder nicht. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass Bildungsprobleme, die nicht im frühkindlichen oder Grundschulalter gelöst werden, später nicht nur ungelöst bleiben, sondern immer größer werden.
Es muss mehr und besser frühkindliche Bildung für alle geben, die Schulen müssen technisch besser ausgestattet werden, aber auch die Lehrkräfte technisch fortgebildet werden, damit auf Home-Schooling (das aus mehr als per E-Mail verschickten Hausaufgaben bestehen sollte) zum Beispiel auch dann zurückgegriffen werden kann, wenn mal wieder ein Sturmtag droht (was ja häufiger vorkommen wird).
Vorwurf: Politik hat die Bedürfnisse der Familien zu wenig im Blick
„Die Politik muss die Bedürfnisse von Familien mehr im Blick haben, eine starke öffentliche Infrastruktur für Kinder und Jugendliche aufbauen, Care-Arbeit eine grundlegend neue Wertschätzung zukommen lassen, egal ob zu Hause oder im Beruf“, schreibt Silke Fokken – und dass sie die Gleichberechtigung von Frauen anders vorantreiben müsse, da ist sie einer Meinung mit Silke Rennefanz. Die Berliner Journalistin streicht in „Frauen und Kinder zuletzt“ die ungerechte Verteilung der Pandemie-Lasten heraus. Frauen hätten sich oft zwischen Home-Office, Home-Schooling und Hausarbeit förmlich zerrissen; zugleich seien sie durch die vermehrte Heim-Arbeit im Berufsleben weniger sichtbar geworden.
Für die Gleichberechtigung der Frauen, so die Soziologin Jutta Allmendinger, bedeute die Pandemie einen Rückschritt von drei Jahrzehnten. Sabine Rennefanz schildert am eigenen Beispiel einer weitestgehend gleichberechtigten Ehe, dass sich in der Krise und im Home-Office dann doch wieder alte Rollenbilder durchgesetzt hätten: „In der Pandemie fing ich an, mehr Hausarbeit und Kinderbetreuung zu übernehmen als zuvor.“ Dass sie sich als „Hauptverantwortliche“ daheim fühlte, führt sie darauf zurück, dass sie immer noch verinnerlicht habe, die Zeit ihres, des Mannes sei mehr wert als ihre, die von Frauen.
Die Erschöpfung aus der Dreifach-Belastung, so Rennefanz, habe in den USA und auch hierzulande Frauen neu nachdenken lassen über den Sinn dieser Selbstausbeutung. Frauen, die es sich leisten konnten, reduzierten ihre Arbeitsstunden, ja kündigten ihre Festanstellung. Darunter auch Sabine Rennefanz, die das tat, um ihr Buch schreiben zu können.