Mülheim. Das italienische Regie-Kollektiv Anagoor inszeniert in Mülheim „Germania. Römischer Komplex“ – weil der Fremde Freund werden muss und nicht Feind.
Es gibt Situationen, in denen unser Immunsystem als biologischer Selbstschutz heruntergefahren werden muss – bei lebensrettenden Operationen etwa, bei Organtransplantationen. Dann ist das neue Herz, das uns eventuell eingepflanzt wurde und nun an neuem Ort im eigenen Rhythmus schlägt, etwas Fremdes in uns. Und: Es ist Freund, nicht Feind.
Man muss das eigene Fremde erkennen, um auch das fremde Andere anzunehmen. In der Koproduktion „Germania. Römischer Komplex“ des Theaters an der Ruhr mit dem italienischen Regie-Kollektiv Anagoor bildet diese Erkenntnis so etwas wie ein Leitmotiv. Wobei Komplex durchaus im psychologischen Sinn zu verstehen ist – als Verbund von Gefühlen und Gedanken, Bildern und Vorstellungen, die in der Summe eines ergeben können: Vor- und Fehlurteile.
Tacitus poetisch aufbereitet und mit Durs Grünbein angereichert
Der gegen Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. erschienene Bericht „Germania“ des römischen Historikers Tacitus, den Simone Derai (Regie, Dramaturgie) poetisch aufbereitet und um Texte etwa von Durs Grünbein und der Essayistin Antonella Anedda erweitert hat, bildet den Ausgangspunkt für eine bild- und sprachgewaltige Inszenierung, die einen düsteren Bogen von der Niederlage römischer Legionen gegen die Germanenverbände des Arminius im Jahr 9 n.Chr. ins Heute schlägt. Eine dumpf-dröhnende Soundinstallation verstärkt dabei das verstörende Geschehen fast bis zur Unerträglichkeit.
Zu Beginn zitiert Anagoor-Mitglied Marco Menegoni auf Latein aus der Schrift, in der Tacitus im Rückblick über die Varus-Schlacht berichtet. Eine Projektionswand, die sich später hebt und den Blick freigibt auf ein Gräberfeld der Namenlosen, liefert die deutsche Übersetzung. Um die aggressive Sicherung der Grenzen des Reiches vor den angeblichen „Barbaren“ geht es, um ein dunkles, unwirtliches Land, um die selbstherrliche Verpflichtung, den vordringenden Germanen erst einmal Zivilisation zu bringen. Die Germanen, verkörpert in der Folge von Bernhard Glose (vielleicht als Arminius), die ohnehin keine homogene Einheit bilden, sehen dagegen in den Römern die Wurzel allen Übels.
Roberto Ciulli erzählt von seinen ersten Erfahrungen in Deutschland
Zusammen mit Simone Thoma als Frau von heute reflektieren Glose und Menegoni angesichts Gräberfeldes von Kalkriese (das es so nicht gibt) über die Geschicke von Römern und Germanen, berichten von im Tode vereinten Menschen, die damals wie heute Grenzen schützen oder überschreiten wollten. Opfer, deren Gebeine längst nicht mehr nach Zugehörigkeiten zu unterscheiden sind.
Grenzen und ihre Überwindung: Ein wunderbarer, hoch emotionaler Mittelteil gibt – nun frei von atmosphärischen Sounds – dem Thema etwas menschlich unmittelbar Anrührendes. Wie bei einem spontanen Gespräch im intimen Freundeskreis erzählt der Hausherr und gebürtige Italiener Roberto Ciulli von seinen ersten Kindheitserfahrungen im „fremden“ Deutschland, benennt die kleinen und großen Grenzen (der Kultur, der Sprache und der damit verbundenen anderen Denkweise), die ihn anfangs verzweifeln ließen und deren Überwindung dank Sprache und Kultur ihn formte. Diese kleine, unprätentiöse Erzählung ist es, die alles Gesehene und noch Kommende auf magische Weise verklammert.
Termine: 19.2. (19.30 Uhr); 20.2. (18 Uhr). Tel. 0208-5990188 Infos: www.theater-an-der-ruhr.de