Gelsenkirchen. „Hedwig and the Angry Inch“, das Off-Broadway-Rockmusical, wird im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier mit stehenden Ovationen gefeiert.
Ohrenbetäubend laut, schrill und schräg explodiert die Show im Musiktheater im Revier wie ein Vulkan, wenn die langbeinige Drag-Queen in schwarzen Netzstrümpfen, Mikromini und blonder Lockenperücke die Bühne des Kleinen Hauses entert. Die optisch wie musikalisch pralle Premiere des Rock-Musicals „Hedwig and the Angry Inch“ rund um einen Menschen auf der verzweifelten Suche nach seinem wahren Ich feierte das Publikum mit stehenden Ovationen.
Die 1998 uraufgeführte Off-Broadway-Produktion von John Cameron Mitchell passt perfekt in eine Saison, die Intendant Michael Schulz ganz zeitgeistgemäß der theatralischen Suche nach einer heterogenen und offenen Gesellschaft gewidmet hat. Diese „Hedwig“ ist eine Grenzgängerin zwischen Mann und Frau, zwischen Ost und West, zwischen verliebt und verzweifelt. Und diese Produktion eine furiose Mischung aus Rockkonzert, Musical und Schauspiel. Regisseur Carsten Kirchmeier richtet den Fokus vor allem auf das berührende Porträt einer flirrenden Figur, die komplett aus dem gesellschaftlichen Rahmen fällt, darum weiß und daran leidet. Als Hansel in Ostberlin geboren lässt sie sich der Liebe zu einem Amerikaner und der Chance auf Ausreise in den Westen wegen zur Frau operieren. Doch die OP misslingt, ein „zorniger Zoll“ bleibt zurück, und Hedwig wandert orientierungslos zwischen den Geschlechtern. Derweil ist der Geliebte längst verschwunden.
Alex Melcher ist eine Hedwig im beeindruckenden Dauereinsatz
Der unglaublich präsente Musical-Gastdarsteller Alex Melcher verkörpert im beeindruckenden Dauereinsatz intensiv und mitreißend diese Ambivalenz einer offenbar stets scheiternden, tragischen Existenz, mal zart und ironisch, mal böse und aufbrausend. Grell geschminkt und schrill verkleidet (Bühne und Kostüme: Jürgen Kirner) begrüßt er als Rockstar Hedwig das Publikum zu seinem ersten Konzert in Gelsenkirchen („Ich habe gehört, ihr seid Kummer gewohnt“). Zwischen den von waberndem Bühnennebel, glitzernden Discokugeln und tanzenden Scheinwerfern begleiteten Songs erzählt er seine Lebensgeschichte von der tragischen Verwandlung eines zarten Knaben in eine „weltweit missachtete Sängerin“. Denn auch die zweite Liebe zu einem Künstler, dem Hedwig die erfolgreichsten Songs auf den Leib geschrieben hat, zerbricht, und so geht sie mit ihrer Band „The Angry Inch“ auf Tingeltour.
Die Band: Patrick Sühl, Johannes Still, Leon Dombrowski und Alex Bernath
Als Hedwig wird Alex Melcher vom mächtig wummernden Sound der eigens für die Show zusammengestellten Band mit Patrick Sühl (Gitarre, Gesang), Johannes Still (Piano), Leon Dombrowski (Bass) und Alex Bernath (Drums) üppig begleitet. Die Songs aus der Feder von Stephen Trask, mal im englischen Original, mal in deutscher Übersetzung, wüten wild und anarchisch, von Punk, Grunge und Glamrock inspiriert. Den hohen Erregungszustand dimmen zwischendurch zart-melancholische Balladen.
Die so ersehnte zweite Hälfte ihres Ichs findet Hedwig auch in ihrem Ehemann Yitzhak nicht. Nina Janke verkörpert ihn in schwarzem Rockergewand und mit starker Stimme in beachtlicher Beiläufigkeit. Auch Yitzhak ist ein Suchender. Wenn Hedwig am Ende das Tourplakat mit dem aggressiv weit aufgerissenen Mund abreißt, sich nach und nach aus ihrem Fummel schält und nur noch der nackte Mensch übrig bleibt, dann deutet sich zumindest etwas Hoffnung auf neue Selbstakzeptanz ohne Maskerade an.
Bis 8. Mai. Karten: Tel. 0209 4097200