Essen. Ein modernes Flüchtlingsdrama: Hermann Schmidt-Rahmer bringt Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ auf die Bühne des Essener Grillo-Theaters.
Wenn am Ende Tom (Alexey Ekimov) von einer „Armee der Bitterkeit“ fantasiert, von Tausenden, die sich in ihrer Wut vereinen, dann ist diese Vision genau jener Alptraum, der die Menschen im amerikanischen Westen vor gut 80 Jahren verfolgt haben mag: Dass da Flüchtlinge ihr Land „fluten“, wie es einmal heißt, verlockt von der Aussicht auf Arbeit, vertrieben von der Dürre in ihrer Heimat. „Okies“ riefen sie die Menschen aus Oklahoma, die in den 1930er Jahren in Scharen kamen. Schriftsteller John Steinbeck hat damals den Treck begleitet; 1939 veröffentlichte er seinen Roman „Grapes of Wrath“.
Nun hat Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer für das Essener Grillo-Theater die nicht so ganz fern liegenden gegenwärtigen Bezüge herausgearbeitet. Seine Bühnenfassung der „Früchte des Zorns“ ist eine Collage aus Motiven und Sätzen, die von Migration und Hoffnung und Verzweiflung künden. Da zählt die Mutter (Silvia Weiskopf) die Familie durch, wie viele sind wir, wie viele müssen ins Auto passen? Der Vater (Jan Pröhl) mahnt, seid vorsichtig mit dem Wasser! Der Großvater (Sven Seeburg) gibt Tipps zum richtigen Häuten eines Kaninchens; etwas abgemildert wird diese blutige Vision durch den Umstand, dass der Opa auf der Couch sitzt und seine Beute nur eine Tiefkühlpizza ist.
„Wie fühlt es sich an, wenn es wir selber sind, die vertrieben werden?“
Denn diese zornige Familie, die etwas rätselhafterweise rothaarig ist in verschiedenen Nuancen (eine seltene Gen-Variante, diese Rothaarigkeit, die mit wütendem Temperament assoziiert wird, sich medizinisch fundiert aber nur durch erhöhte Schmerzempfindlichkeit auszeichnet), diese Familie also: sind wir. Oder sollen wir sein. „Wie fühlt es sich an, wenn es wir selber sind, die vertrieben werden?“, diese Frage formuliert Schmidt-Rahmer im Programmheft im Gespräch mit seinem Dramaturgen Simon Meienreis. Auf Thilo Reuthers Bühne steht eine Puppenstube, fünf Zimmer auf zwei Etagen: Kühler Allerwelts-Mittelstand von der Stehlampe über das Ikea-Bett bis zur weißen Küchenzeile; im Carport hinten ein Mittelklassewagen als Pappkamerad. Und Pia Maria Mackerts Kostüme sind so gestaltet, dass man sie gerne fragen möchte, woher Mutters schöne Wildlederstiefel stammen, kann man die vielleicht im Internet bestellen?
Am Ende bleibt die (wirklich!) gute Idee, aber zugleich eine emotionale Leere
Die erste halbe Stunde funktioniert das Gedankenexperiment wunderbar. Auf zwei Videoschirmen rauschen die Katastrophen der Welt in die Puppenstube, Fluten, Dürren, Fliehende; Projektionen von wuchernder Natur legen sich über die Zimmer. In kühler Zurückhaltung sagen die Schauspieler ihre Texte auf, reden vom Weggehen, obschon sie ihre vier Wände nie verlassen werden, ganz auf sich zurückgeworfen. Was wäre, wären wir betroffen? Ein Schauer, in der Sicherheit des Zuschauerraums geteilt mit den Sitznachbarn.
Dann aber läuft sich die Spiegelung der Allerwelts-Leben tot. Es spult sich die Steinbeck’sche Handlung ab, auf der Flucht sterben die Großeltern, Connie (Stefan Migge) wird sich vom Acker machen und seine schwangere Frau sitzen lassen, Tom wird einen Mann erschlagen. Es spritzt das Theaterblut, es setzen sich Schauspieler Hirschköpfe auf, auch das rätselhaft – das Hirschgeweih als Symbol bürgerlicher Heimeligkeit? Oder die gehörnte, betrogene Gesellschaftsschicht?
Am Ende bleibt die (wirklich!) gute Idee, aber zugleich eine emotionale Leere: Auch das Elend dieser Flüchtlinge bleibt uns leider viel zu fern.
Termine: Schauspiel Essen