Washington. Eine Mission mit Tiefgang: Matt Damon zeigt in „Stillwater - Gegen jeden Verdacht“ das Bild eines doch nicht ganz typisch-kantigen Amerikaners.
Männer ohne nennenswertes Innenleben so stoisch zu spielen, dass man nicht mehr wegsehen möchte, scheint die Spezial-Disziplin von Matthew „Matt” Paige Damon zu werden. Hollywoods Akademiker, er studierte in Harvard, lieferte schon als „Marsianer”-Astronaut Watney eine Ausnahmevorstellung als Solist in seinem eigenen Weltall.
Im frankophil-amerikanischen Film „Stillwater – Gegen jeden Verdacht” gibt der 50 Jahre alte Oscar-Preisträger einen der verkorksten Tochterliebe wegen befristet nach Marseille ausgewanderten oklahomanischen Öl-Arbeiter.
Matt Damon als bulliger Wrangler-Jeans-Träger mit Ziegenbart
Dieser Bill Baker ist anfangs redefaul, verstockt, karikaturhaft redneckig und minimalistisch hoch zwei. Man wünschte sich manchmal einen feuchten Redeschwall herbei, der den bulligen Wrangler-Jeans-Träger samt Ziegenbart und dem nur zum Beten abgenommenen Baseballkäppie einfach hinwegfegt.
Baker, seine Frau hatte sich umgebracht, kratzt alle Jubel-Monate seine sauer verdienten Dollar zusammen, um Economy über den Atlantik in die französische Küsten-Metropole zu fliegen. Dort sitzt seine lesbische Tochter Allison für neun Jahre ein. Weil sie ihre arabisch-stämmige Bettbeziehung Lina ermordet hat. Haben soll. Die Begegnungen der beiden sind niederschmetternde Zeugnisse einer verkorksten Vater-Tochter-Beziehung. Aber Baker tut das, was die Amerikaner „to soldier on” nennen. Er macht unermüdlich weiter.
Zuschauer erlebt in „Stillwater“ eine investigative Stadtrundfahrt
Baker, einst Suffkopp und drogensüchtig, jetzt betwütig, glaubt zwischen seinen muskelbepackten Schulterblättern zutiefst an die Unschuld der von Abigail Breslin verkörperten Jung-Frau. Als eine neue Spur auftaucht (Akim, ein junger Mann mit Maghreb-Hintergrund), die Justiz aber an einem Neuaufrollen des Falles kein Interesse bekundet, begibt sich Bill Baker bar jeder notwendigen Kultur-Technik (er spricht „no french”) auf eine investigative Stadtrundfahrt.
Sie führt ihn unter anderem in das berüchtigte Multi-Kulti-Problemviertel Kallisté, wo man riskiert, bös’ was auf „la gueule” zu kriegen, wenn man die falschen Leute nach den falschen Leuten fragt. Sie führt ihn, den „Yes, ma’am”-Autisten, aber auch zur Einheimischen Virginie (Camille Cottin), eine dem Leben und der Lust zugetane Theaterschauspielerin mit tiefgrünen Augen, und ihrer herzallerliebsten Tochter Maya, verkörpert von dem jungen Talent Lilo Siauvaud. Bei ihnen richtet der an Bohrtürme gewöhnte Mann aus dem Mittleren Westen, der nur deshalb nicht Donald Trump wählte, weil ihm wegen einer Straftat das Wählen verboten war, seinen Brückenkopf in einer von Empathie und der Liebe zum Genuss getragenen Welt ein. Er will nah bei Allison sein auf ihrem Weg in die Freiheit. Baker kocht. Baker spielt Schulabholer-Nanny. Baker lernt Französisch.
Regisseur Tom McCarthy arbeitet mit hoher Präzision und viel Liebe für Details
Dabei macht der mit seinem Holzfällerhemd verwachsen scheinende Ausländer eine Metamorphose durch, die Regisseur Tom McCarthy, der für das reale Bostoner Kirchenmissbrauchs-Epos „Spotlight” bereits einen Drehbuch-Oscar bekam, mit hoher Präzision und viel Liebe für Details nachzeichnet. Baker schmunzelt plötzlich hinter seinem Zottelbart. Baker legt die unsichtbare Zwangsjacke ab, die ihn roboterhaft durch die Welt staksen lässt. Baker zeigt Gefühle, als er gemeinsam mit Virginie und Maya innig zu Sammi Smith’s „Help Me Make It Through the Night” in der Küche tanzt.
So viel Gefühl, dass der hässliche Amerikaner der ersten Film-Hälfte nicht mehr zu sehen ist. Ein Vorgang mit Seltenheitswert. Hollywood stellt sonst keine liebenswürdigen Rednecks ins Schaufenster. Aber Baker ist einer in Reinform.
Zum Schluss: Erkenntnisse auf der morschen Spanplatten-Veranda
Einer, der die Dinge selbst in die schwielige Hand nimmt, etwa den bei einem Fußballspiel gesichteten Akim. Der schmächtige Knabe wird wie weiland im Wilden Westen entführt und in einem Kellerverlies angekettet, bis das Ergebnis eines DNA-Tests kommt. Es kommt, aber anders als Baker gehofft und Allison beteuert hatte. Weil Lina ihr untreu war, setzte sie Akim auf die Ex-Gespielin an. Was als Strafe gedacht war, endete tödlich.
Allison kommt frei. Baker verliert mit Virginie und Maya seine zweite Heimat. Daheim in Oklahoma sitzen Vater und Tochter, einander still befremdelnd, am Ende auf einer morschen Spanplatten-Veranda und wünschen sich insgeheim nach Marseille zurück. Wie sagte Allison so schön wie einfach: „Das Leben ist brutal.”