Mülheim. Endspiel der Zivilisation unter der Lupe einer Naturkatastrophe: Roberte Ciulli inszeniert Sorokins „Violetter Schnee“ fürs Theater an der Ruhr.

Den Schnee liebt die Dichtung vielleicht wegen einer gewissen Seelenverwandtschaft. Wie kein anderes Wetter verbannt er die Wirklichkeit ins Undefinierbare. Er liebt die Täuschung, auch das Hässliche wird rein, er nivelliert Hierarchien, zugleich lässt sein Weißes ungeschönt den Blick zu auf Befleckung, auf Blut und Dreck.

Den vielen Variationen zum Thema von Tolstoi bis Pamuk fügt der Russe Vladimir Sorokin, den Claus Weselsky und die Seinen daran hinderten, am Wochenende ins Revier zu reisen, eine jetzt uraufgeführte hinzu. „Violetter Schnee“ ist eigentlich ein Opernlibretto, als Drama aus der Taufe gehoben wurde der Text jetzt in der Regie des nunmehr 87-jährigen Roberto Ciulli.

Am Theater an der Ruhr inszeniert Roberto Ciulli „Violetter Schnee“

Das Mülheimer Theater an der Ruhr führt mit dieser Eröffnungsinszenierung einen achtbaren, aber nicht allzu hochkarätigen Zweistünder im Spielplan. Das ist weniger Ciullis Schuld, der Altmeister sucht fraglos engagiert nach dem Gleichnishaften der Textvorlage. Sorokin (in seiner Heimat vom Staatsapparat gehasst) aber siedelt mit seiner Versuchsanordnung allzu ersichtlich an großen Vorbildern. Sein Menschen-Quintett, das ein in Europa ungekannter und unendlicher Schneefall zur Zwangsgemeinschaft zwingt, erinnert an die Daseinshöllen Sartres, die kreisende Sprache seiner Figuren ist ein (schwaches) Echo auf Samuel Becketts ausgehöhlte Dialogschleifen.

Mit Hundefutter, ohne Thomas Mann: Autor Sorokin zeigt eine Zivilisation am Ende

Silvia, Natascha, Jan, Peter und Jacques können vor lauter Schnee nicht mehr hinaus. Dass sie Hundefutter essen, den „Zauberberg“ und „Ulysses“ längst zum Heizen nutzen, hat bereits die Züge des Beiläufigen erhalten. An diesem Abend, der weitgehend kalt lässt, weil er vielleicht Kälte atmen soll und muss, ist eine der wenigen aufwühlenden Szenen jene Bücherverbrennung, die hier eine angesehene, musisch gebildete Intelligenzija vollzieht. Da sendet Ciulli ein beklemmendes Wimmern durch den Raum, da Hans Castorp und Leopold Bloom brennen müssen, um die Temperatur eines belanglosen „Weiter so!“ nicht zu drosseln. Was – das mag angesichts der Zerstörung unseres Planeten die zentrale Frage von „Violetter Schnee“ sein – opfern wir alles noch auf dem Altar unseres Überlebensdrangs?

„Violetter Schnee“, kein überragendes Stück, aber eine ehrgeizige Inszenierung

Ciulli verweigert mit spürbarem Vorsatz Sorokins endzeitlicher „Closed Room“-Anlage, die im Entertainment ungezählte Kriminalromane kultivieren, jeden illusionistischen Zauber. Keine einzige Flocke fällt an diesem Abend. Die Spielfläche, die Elisabeth Strauß ihm dafür gebaut hat, ist ein morsches Totenfloß. Dass diese geschlossene Gesellschaft das Menschliche nur noch unter Mühe aufrecht erhält, dass sie, Untoten gleich, in hohlen Ritualen ihr Heil sucht, forciert das Ensemble (Dagmar Geppert, Albert Bork, Thomas Schweiberer, Fabio Menéndez) in feinen, eindringlichen Kabinettstücken. Liebesakte? Leblos! Das Musizieren? Nur noch ein von Krämpfen geschütteltes Erinnern (grandios artifiziell Simone Thoma) an jene Gipfel der Zivilisation, von denen wir alle miteinander längst wieder abgestiegen sind. Rettung? Ein ewiges Begräbnis.

Dem Abend, der nicht ohne Spannungslöcher ist, spendet das Premierenpublikum kaum mehr als freundlichen Beifall. In der Schlussszene blieb die Bühne leer, ein frisch gebackenes Brot auf dem Tisch. Es geht also weiter mit unserer verdammten Spezies. Rette sich, wer nicht mehr kann.