Essen. Fritz Pleitgen sagt: Das Ruhrgebiet soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Und: „Wir haben noch zehn Jahre, die Welt zu verändern“
Fritz Pleitgen lässt in seinem Buch „Eine unmögliche Geschichte“ nicht nur die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung Revue passieren – er leitet aus dieser Erfahrung auch Hoffnungen für die Zukunft ab, nicht nur die der Deutschen, sondern auch für die des Planeten. Jens Dirksen sprach mit ihm darüber genau wie über das Ruhrgebiet und seine Zukunft.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie sich vorstellen könnten, in Görlitz zu leben – wie das?
Fritz Pleitgen: Das war die erste Stadt, über die ich als DDR-Korrespondent eine Reportage gemacht habe.
Und Görlitz war beim Rennen um den Kulturhauptstadttitel der letzte Konkurrent für das Ruhrgebiet.
Ja, aber als die Kulturhauptstadt vorbei war, haben mich die Görlitzer eingeladen. Ich habe da verschiedene Projekte unterstützt, die mit Polen zu tun haben. Ich bin deshalb häufiger in Görlitz gewesen, und ich muss Ihnen sagen, die Stadt ist wunderbar restauriert worden, ein Juwel an Baustilen, da finden Sie alles. Und sie hat einen Charme, einen europäischen Geist, es ist, anders als in der Zeit der ,Völkerfreundschaft‘ zwischen Polen und der DDR, jetzt sehr leicht, auf die polnische Seite der Stadt zu kommen, nach Zgorzelec, die Leute laufen hin und her: So stelle ich mir Europa vor! Was mich allerdings davon abhalten würde, nach Görlitz zu ziehen, ist die starke Anwesenheit der AfD dort.
Die Görlitzer haben bei der Kulturhauptstadt zum Ruhrgebiet gesagt: Was wollt Ihr denn mit dem Titel, Ihr hab doch schon alles? Sie hatten nicht verstanden, dass es darum ging, eine unbekannte Schöne in Europa vorzustellen.
Und Oliver Scheytt und die anderen Kulturdezernenten hatten das bessere Konzept, die besseren Ideen. Etwas Ähnliches ist ja jetzt auch Chemnitz gelungen, das ist ja auch keine Schönheit auf den ersten Blick, jedenfalls nicht so eine Drogerieschönheit. Aber die haben sich mit tollen Ideen durchgesetzt.
Die Idee zur Kulturhauptstadt Ruhr, von der bis heute am meisten die Rede ist, dürfte das Stillleben auf der A40 sein. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, war das Ihre Idee.
Ja, zusammen mit Jürgen Flimm. Der war ja zwischendurch auch mal im Gespräch für die Kulturhauptstadt-Leitung. Wir haben beim Rotwein zusammengesessen, und ich hatte ihm erzählt, wie toll das war in den USA auf der Interstate, die für Picknicks und Fahrradtouren gesperrt wurde. Ich weiß wirklich nicht mehr, wer nun welche Idee hatte, aber das Wichtigste an der Sperrung war ja der Tisch. Im Ruhrgebiet alle Leute an einen Tisch zu bringen, das war schon etwas Besonderes, weil die Städte im Ruhrgebiet ja eigentlich nur zwei Gemeinsamkeiten haben: Alle sind pleite – und eine kann die andere nicht ausstehen. Die Kulturhauptstadt ist ja, im Nachhinein betrachtet, zu einem unerwartet großen Erfolg geworden. In der Geschichte der Kulturhauptstädte hat keine einen solchen Zuspruch gefunden.
Weil Oliver Scheytt und Fritz Pleitgen so tüchtige Leute sind?
Ach was, nein! Es lag daran, dass die Kommunen zum ersten Mal an einem Strang gezogen haben. Und ich werde nicht müde zu sagen: Daran sollte man sich ein Beispiel nehmen. Für mich ist das Ruhrgebiet ein unglaubliches Kraftpaket, gesellschaftlich, wirtschaftlich und nicht zuletzt kulturell. Eine Modellregion in Europa! Man sollte die Idee, eine Metropole neuen Typs in Europa zu werden, weiter verfolgen. Man sollte das Licht nicht zu sehr unter den Scheffel stellen. Das Wichtigste wäre, weitere gemeinsame Aktionen zu schaffen. Ich bedauere, dass das Ruhrgebiet in der Presse so wenig als Schrittmacher für andere auftaucht, sondern eher als ein Armenhaus oder immer noch mit dem Strukturwandel ringend. Man muss dieses Image endlich abschütteln durch entsprechende gemeinschaftliche Leistungen.
Reicht das schon?
Vielleicht hilft es auch, wenn ein Bürgermeister aus dem Ruhrgebiet für ein Jahr lang als Sprecher für die gesamte Region auftritt. Und dann auch in Brüssel, bei der Europäischen Union. Und dann müsste man auch Institutionen der EU ins Ruhrgebiet holen, man hat doch alle guten Argumente dafür! Ich habe mal mit Jean-Claude Junckner darüber geredet, der fand, dass das Ruhrgebiet durch den Strukturwandel doch sehr viele Erfahrungen einzubringen hätte und auch in Sachen ökologischer Umgestaltung. Ich würde alles daransetzen, dass man mal auf sich aufmerksam macht. Man müsste dafür sorgen, dass das Ruhrgebiet einmal in der Woche positiv in der Tagesschau auftaucht.
Gut, wir nehmen uns das mal vor.
Man muss ja nur dran kratzen, dann kommen im Ruhrgebiet unglaublich schöne, strahlende Farben heraus. Auch im Gesundheitswesen hat man doch allen Grund, stolz zu sein. Und in der Wissenschaft. Ich verstehe nicht, dass man das nicht stärker zur Geltung bringt. Aber fragen Sie mal jemand in Schweden nach dem Ruhrgebiet, da kommt nicht viel. Da gibt es viel zu tun für eine tolle Öffentlichkeitsarbeit. Wenn sich die Städte nur mal wirklich zusammentun, ist an dieser Holzkiste doch noch eine Menge zu löten.
Sie haben Ihr Buch für die zweite Auflage noch einmal verändert?
Ich war ziemlich kaputt durch meine Krankheit, da hat meine Lektorin gesagt, das Buch ist fertig. Ich war ja mit dem Ende auch in der Gegenwart angekommen, bei den hoffnungsvollen Signalen der Regierung von Joe Biden. Aber ich wollte eigentlich noch auf die Zukunft kommen. Deshalb habe ich für die zweite Auflage noch einen neuen Schluss geschrieben, in dem ich mich der Frage zuwende, ob man die Erfahrung mit der deutschen Einheit auch auf die Zukunft anwenden kann.
Und?
Man kann! Und ich hab auch schon einen Termin: 2030! Wir haben noch zehn Jahre, die Welt zu verändern, die Vereinten Nationen haben das ja als Ziel ausgegeben, bis dahin eine gesündere, gerechtere und widerstandsfähigere Welt zu schaffen, die der Klimakrise entkommt. Darauf sollten wir uns freuen, darauf sollten wir hinarbeiten. Die Bürger müssen dazu aber die Politik am Portepee packen und sagen: Leute, leistet etwas!