Essen. Marianne Faithfull hat auf Tod und Leben mit einer Covid-Infektion gekämpft. Ob sie je wieder singen können wird, weiß sie nicht, sagt sie.
Der Körper mag malad sein. Doch wenn die 74-jährige Marianne Faithfull die Gedichte von Lord Byron, John Keats oder Lord Alfred Tennyson vorliest, zieht sie alle mit ihrer einmalig tiefen und von Lebensspuren gegerbten Stimme tief in ihren Bann. Exakt dieses Album, sagt Faithfull, die 1964 mit dem Lied „As Tears Go By“ sowie als Muse von Mick Jagger berühmt wurde, habe sie bereits ihr ganzes Leben lang aufnehmen wollen. Die zurückhaltende Musikbegleitung auf diesem intensiven und romantisch-melancholischen Hörereignis stammt von Faithfulls Mitstreiter Warren Ellis, dem Multiinstrumentalisten in der Band von Nick Cave. Steffen Rüth sprach mit Marianne Faithfull, die in London lebt, um nah bei ihrem Sohn und den drei Enkeln zu sein, am Telefon.
Frau Faithfull, Sie waren im vergangenen Sommer schwer an Corona erkrankt und rangen mit dem Tod. Wie geht es Ihnen heute?
Marianne Faithfull: Es geht mir besser. Das Virus hat mich nicht besiegt. Aber es war eine knappe Geschichte. Sie müssen übrigens entschuldigen, dass wir nicht sehr lange sprechen können. Für eine richtig lange Unterhaltung habe ich noch nicht wieder die Konstitution.
Kein Problem. Schön, dass Sie sich die Mühe machen.
Mein neues Album bedeutet mir sehr, sehr viel. Deshalb möchte ich unbedingt darüber sprechen.
Bevor wir auf „She Walks In Beauty“ zu sprechen kommen, noch die Frage, wie gut Sie sich an die Wochen im Krankenhaus erinnern können.
Glücklicherweise fehlt mir größtenteils die Erinnerung an die Zeit, in der mein Leben wirklich auf der Kippe stand. Das ist fast schon eine Gnade und gewissermaßen die positive Folge des künstlichen Komas, in dem ich lag. Ich befand mich an einem wirklich dunklen Ort. Und leider ist es noch nicht vorbei. Ich muss immer noch mit erheblichen Einschränkungen leben. Mein Kurzzeitgedächtnis macht mir nach wie vor Schwierigkeiten, meine Lungen sind noch geschwächt, und ich bekomme noch nicht so gut Luft. Alles strengt mich viel mehr an als früher, insbesondere das Sprechen. Aber Darling, ich will nicht klagen. Dafür ist doch unsere Zeit zu schade.
Werden Sie je wieder singen können?
Das ist die große, spannende Frage. Ich weiß es nicht. Ich arbeite daran. Im Moment ist es mir noch nicht wieder möglich zu singen. Doch ich übe mehrmals die Woche. Ein guter Freund trainiert mich. Tatsächlich empfehlen die Ärzte allen Covid-Patienten, nicht nur mir, zu singen. Das ist ideal, um wieder Kraft in die Lungen zu bekommen.
Sie haben bisher schon so einiges überlebt: Ihre Heroinsucht in den Siebzigern, Hepatitis C, Brustkrebs, vor drei Jahren eine gebrochene Hüfte, die sich entzündet hat und jetzt auch noch Corona. Sind Sie eigentlich unzerstörbar?
Das wäre eine schöne Sache. Aber nein, das bin ich nicht. Ich hatte bislang immer sehr viel Glück. Aber warum ich überlebe und andere Menschen sterben? Warum überhaupt Menschen sterben? Ich kann die Frage nicht beantworten. Mein langjähriger Produzent und guter Freunde Hal Willner hat es nicht geschafft. Er ist an Corona gestorben, mit 64. Es ist schrecklich. Ich bin einfach dankbar, noch am Leben zu sein.
Der englische Lyriker John Keats, von dem Sie auf „She Walks In Beauty“ gleich drei Gedichte rezitieren, starb mit gerade mal 25 Jahren an Tuberkulose. Fragen Sie sich, was er noch alles hätte schreiben können, wäre er so alt geworden wie Sie jetzt sind?
Eigentlich nicht. Sein früher Tod ist sehr traurig, vor allem natürlich für ihn selbst. Doch für uns, die wir heute seine Poesie genießen können, hat er in seiner kurzen Lebenszeit alles getan, was er tun konnte. Seine Lyrik ist wundervoll, ein absoluter Genuss. Man weiß ja auch nicht, ob seine Dichtkunst in möglichen späteren Jahren noch so brillant gewesen wäre wie in seinen jungen. Nun ja, man wird es auch nicht erfahren, denn sein Leben endete tragisch. Mir jedenfalls fehlt nichts, sein Werk ist aus meiner Sicht vollkommen.
Sie sagen, „She Walks In Beauty“ sei für Sie die Erfüllung eines Lebenstraums.
Ja, das ist wirklich so. Mein Leben hat sich immer genau auf ein Album wie dieses zubewegt. Die Poesie verfolgt und fasziniert mich schon seit sehr, sehr langer Zeit.
Wann haben Sie angefangen, sich für die englischen Dichter des 19. Jahrhunderts zu begeistern?
Schon als Mädchen. In der Schule. Ich hatte eine fantastische Lehrerin, die mich so etwa mit 12 oder 13 unendlich für diese Kunst begeistern konnte. Eigentlich wollte ich nach der Schule sogar in London Englische Literatur studieren, ich hatte das Fach als Leistungskurs. Mit 17 beendete ich jedoch die Schule. Mir war etwas dazwischengekommen – die Karriere.
Andrew Loog Oldham, der Manager der Rolling Stones entdeckte Sie auf einer Party. Sie hatten mit 17 den Welthit „As Tears Go By“, bekamen bald schon Ihren Sohn Nicholas und wurden nach der Trennung von Ihrem Mann John Dunbar die Geliebte von Mick Jagger.
So hat es sich zugetragen, ja. Das Schicksal hatte etwas anderes mit mir im Sinn als ein Literaturstudium. Ich denke, alles in allem habe ich durch das Leben mehr gelernt als ich es bei einem Studium hätte tun können. Und die Literatur verschwindet ja nicht, sie ist für alle Zeiten hier und hat mich durch mein Leben begleitet. Ich bin viel ins Theater gegangen und las Bücher, wann auch immer ich dazu kam.
Ihr neues Album ist sehr ruhig, geradezu meditativ. Wann haben Sie und Warren Ellis entschieden, das Projekt „She Walks In Beauty“ anzugehen?
Warren und ich sind seit fünfzehn Jahren eng befreundet, wir tauschen uns regelmäßig aus. Er lebt in Paris, früher konnten wir uns abends besuchen, seit ich in London bin, tauschen wir uns über Computer und Telefon aus. Glücklicherweise schafften wir es noch, sieben oder acht Gedichte aufzunehmen, bevor ich krank wurde. Als es mir wieder besser ging, haben wir noch ein paar Stücke überarbeitet und vollendet. Vielleicht findet diese Platte gerade in eher stillen Zeiten wie diesen ein Publikum. Ich kann so etwas immer nur sehr schlecht einschätzen.
Sie sind also keine Künstlerin, die vor Selbstvertrauen strotzt?
Nein, so eine Person war ich nie. Ich habe mir immer einen Rest Unsicherheit bewahrt. Menschen, die denken, dass alles, was sie tun, brillant ist, berühren mich nicht. Denn niemand leistet ununterbrochen fantastische Arbeit. Ich selbst übrigens am allerwenigsten.
Und doch sind Sie, mit kurzen Unterbrechungen, seit weit über 50 Jahren als Musikerin aktiv.
Ich bin extrem froh darüber, dass ich die Kunst in den Mittelpunkt meines Lebens gestellt habe. Ich denke, das war die richtige Entscheidung.
In Ihrer Stimme scheint immer eine gewisse Traurigkeit durch – würden Sie sich als Melancholikerin bezeichnen?
Ja. Die Melancholie macht meinen Charakter zu einem großen Teil aus. Und es ist auch, aber nicht nur, denn ich liebe zum Beispiel Shakespeare über alles, die Ästhetik der traurigen Worte, die ich anziehend finde. Aber bitte denken Sie nicht, dass ich die meiste Zeit traurig bin. Das ist nämlich absolut nicht der Fall.