Essen. Olga Grjasnowa wirbt für „Die Macht der Mehrsprachigkeit“ – und spricht im Interview über ihre Familie, die sich in vier Sprachen verständigt.

Als Olga Grjasnowa mit elf Jahren nach Deutschland kam, kannte sie genau zwei deutsche Wörter: „Hände hoch“ – aufgeschnappt in alten sowjetischen Weltkriegsfilmen. Heute zählt sie zu den wichtigen deutschen Schriftstellerinnen der jüngeren Generation. Ihr jüngstes Werk aber ist ein Sachbuch: Über „Die Macht der Mehrsprachigkeit“ unterhielt sich die 36-Jährige mit Britta Heidemann.

Frau Grjasnowa, welche Sprachen sprechen Sie, und wann haben Sie sie gelernt?

Olga Grjasnowa: Ich bin mit Russisch aufgewachsen und habe mit elf Jahren angefangen, Deutsch zu lernen. In der Schule habe ich dann viele Sprachen durchgenommen, ohne sie je richtig zu lernen. Dann habe ich Polonistik studiert und war für jeweils ein Auslandssemester in Polen und in Russland. Im Moment ist es so, dass ich täglich drei Sprachen spreche: Russisch, Englisch und Deutsch.

Die drei Sprachen haben mit Ihrer Familie zu tun, richtig?

Ja, genau. Als ich meinen Mann 2013 kennenlernte, konnten wir uns zunächst in keiner gemeinsamen Sprache unterhalten. Er war aus Syrien nach Deutschland gekommen und sprach Arabisch, Aramäisch, etwas Kurdisch, Italienisch und Französisch. Wir kommunizierten überwiegend mit Hilfe eines Übersetzungsprogramms und haben uns sehr oft missverstanden. Aber wir blieben zusammen und etablierten irgendwann Englisch als unsere gemeinsame Sprache, die mein Mann in einer rekordverdächtigen Zeit lernte. Mit unseren beiden Kindern, die im Kindergartenalter sind, sprechen wir jeweils Russisch beziehungsweise Arabisch, sie wachsen also dreisprachig auf, mit dem Deutschen als ihrer ersten Sprache.

Und Englisch?

Das beherrschen sie noch nicht aktiv. Aber es gibt ein paar Wörter auf Englisch, die sie verstehen und sofort Angst bekommen, wenn mein Mann oder ich sie aussprechen: baden gehen, schlafen gehen, Zähne putzen. Dann schreien sie sofort los, auf Deutsch natürlich: Nein, wir wollen noch nicht schlafen!

Würden Sie sagen, dass Sie eine Muttersprache haben?

Nein, nicht mehr. Mittlerweile kann ich mit dem Konzept der Muttersprache nur noch bedingt etwas anfangen. Deutsch ist eindeutig meine stärkste Sprache. Mein Russisch ist dagegen eingerostet. Ich spüre manchmal eine gewisse Barriere – wenn es etwa um politische oder pop-kulturelle Referenzen geht.

Was wäre denn eine Alternative zum Konzept der Muttersprache?

Was ich sehr schön finde ist die Einteilung, die in den Übersetzungswissenschaften benutzt wird. Dort spricht man von A-, B- und C-Sprachen. Die A-Sprache ist die Sprache, in die hinein man dolmetschen kann – unabhängig von der Herkunft. Die B-Sprache beherrscht man ebenfalls gut, würde aber nicht hinein dolmetschen. Und die C-Sprachen sind dann alle anderen, die man zwar beherrscht, aber mit denen man sich nicht unbedingt in die Sprecherkabine setzen würde. Deutsch wäre meine A-Sprache und Russisch wahrscheinlich mittlerweile B, Englisch C.

Sie kritisieren in Ihrem Buch, das Deutschland immer noch eine „monolinguale“ Gesellschaft ist, die allein das Deutsche anerkennt. Was würde denn dafürsprechen, aufzumachen?

Ich glaube, wir haben gar keine andere Wahl, als aufzumachen. Die Gesellschaft ist so divers, wenn wir davor die Augen verschließen, werden die Probleme nur noch größer. Die monolingual deutsch aufwachsenden Kinder sollten die Möglichkeiten haben, die Sprachen ihrer Nachbarn zu lernen, sich anderen Literaturen und Kulturen zu öffnen. Oder sich mit der Herkunft der Eltern, der Großeltern auseinanderzusetzen. Es würde eine Wertschätzung und Akzeptanz der gegebenen Diversität bedeuten. Wenn wir tatsächlich eine Gesellschaft hätten, die mehrsprachig wäre, brauchen wir auch keine Angst mehr zu haben vor russischer oder türkischer Propaganda, die wir nicht verstehen – weil wir sie dann verstehen würden, ihr begegnen könnten. Wir könnten verstehen, mit welchen Bezugspunkten da gespielt wird.

Türkisch als Zweitsprache wird in Deutschland ja tatsächlich ganz anders bewertet als Französisch.

Der Vorwurf der Halbsprachigkeit, die mit einem Nachteil im Deutschen und der vermeintlichen Herkunftssprache verbunden sein soll, wird nur bei bestimmten Sprachen erhoben: Türkisch, Kurdisch oder Arabisch. Wenn ein Kind von Haus aus Französisch spricht, wird das nicht als Problem angesehen. Wenn wir diesen Vorwurf äußern, geht es vor allem um soziale Klasse, um die Furcht vor „Parallelgesellschaften“. Das hat mit der Sprache an sich gar nichts zu tun. Auffällig ist doch, dass die bi- und trilingualen Privatschulen nicht als „Parallelgesellschaften“ stigmatisiert werden, was sie eigentlich de facto sind, da dort eine soziale Segregation stattfindet.

Sie argumentieren, dass das Konzept der monolingualen Gesellschaften gar nicht so alt sei.

Die Einsprachigkeit hat einst dabei geholfen, Nationen zu etablieren - als ein Mittel, sich von den anderen Menschen abzugrenzen. Es gab ja kaum etwas, das den Menschen erklären könnte, weshalb sie zu der einen Nation gehören und nicht etwa zu einer anderen. In Europa hatte bis ins 14. Jahrhundert hinein Latein eine Vorrangstellung. Dann änderten sich die Dinge: In Frankreich etwa wurde Französisch 1539 Amtssprache. Knapp hundert Jahre später gründete sich die Académie française zur Pflege und Vereinheitlichung der Sprache. Auch die deutsche Sprache wurde nach und nach genormt; einen wichtigen Beitrag leistete Martin Luther mit seiner Übersetzung des Neuen Testaments. Als 1871 das Deutsche Reich gegründet wurde, gab es allerdings noch immer eine Fülle von deutschen Dialekten; schließlich entwickelte sich die sächsische Amtssprache zum Standarddeutsch. Damals bildeten sich die Konzepte von „Vaterland“ und „Muttersprache“ aus. Die Sprache wird seither als etwas angesehen, in das man hineingeboren wird. Man soll nur eine Muttersprache haben, so wie man eine Mutter hat und dieser Gedanke ist selbst im modernen Deutschland noch sehr präsent. Sonst würde auch der Vorwurf der Halbsprachigkeit nicht fallen.

Ihr Debütroman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ wurde oft „Migrationsliteratur“ genannt, stört Sie das?

Man kann nie eine Sprache wirklich gut genug, ist sich nie sicher. Ich denke manchmal zwei Wochen lang über eine Metapher nach. Aber ich weiß eigentlich nicht, womit ich es verdient habe, zur „Migrationsliteratur“ gezählt zu werden. Ich habe alle Schritte gemacht, die der deutsche Literaturbetrieb zu bieten hat. Einen unauffälligeren Lebenslauf als ich kann man gar nicht vorweisen – ich habe literarisches Schreiben studiert, ich habe die ganzen Wettbewerbe für Newcomer mitgemacht. Daran war überhaupt nichts Exotisches, außer dass ich mit elf Jahren migriert bin.