Serie „Interkultur Ruhr“: Nesrin Tanç hat es sich zur Aufgabe gemacht, das literarische Erbe von Einwanderern aus der Türkei zu bewahren.
Duisburg. Nesrin Tanç ist auf Spurensuche. Die Duisburgerin hat es sich zur Aufgabe gemacht, das literarische Erbe von Einwanderern aus der Türkei zu bewahren, die in den 1970er- bis 1990er-Jahren ins Ruhrgebiet kamen. „Im Mittelpunkt sind dabei jene Autoren, die sich auf die Kulturgeschichte der Türkei und Deutschlands gleichermaßen beziehen.“
Ein Beispiel der Arbeit von Nesrin Tanç war Ende des vergangenen Jahres zu erleben: Im November präsentierte sie mit der Initiative „Anatolpolitan“, unter der Co-Projektleitung von Fatima Çalışkan und der Illustratorin Silvia Dierkes, das Ergebnis einer aufwändigen Recherche – eine bis ins letzte Detail ausgearbeitete Ruhrgebiets-Landkarte, die veranschaulicht, wo der türkischsprachige Schriftsteller Fakir Baykurt (1929-1999) seine Erzählungen spielen ließ. Die Literaturkarte hängt heute in der Cafeteria des Internationalen Zentrums am Innenhafen Duisburg.
Menschen im Zug zwischen Dortmund und Duisburg
„Baykurt war bereits ein literarisches Schwergewicht, als er 1979 nach Duisburg kam“, sagt Nesrin Tanç, „umso erstaunlicher ist, dass er im literarischen oder kulturhistorischen Kontext kaum oder gar nicht auftaucht“. In seiner neuen Heimat schrieb der Autor die Roman-Trilogie „Hochöfen“, „Mächtiger Rhein“ und „Halbes Brot“, aber auch Kurzgeschichten und biografische Bände. Besonders begeistert ist die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin auch von Baykurts Erzählband „Duisburg Treni“ („Zug nach Duisburg“), in dem er Menschen im Zug zwischen Dortmund und Duisburg beschreibt. Aktuell plant Nesrin Tanç eine Übersetzung dieses Erzählbands.
Damit ein Projekt wie die Baykurt-Karte realisiert werden kann, ist viel Arbeit und Archivarbeit nötig, besonders hinsichtlich der Übersetzung. Nesrin Tanç, Jahrgang 1977, durchforstet aber auch Spitzböden und wühlt in Kellern. „Es ist tragisch, dass sich in Nordrhein-Westfalen und besonders im Ruhrgebiet, die zuständigen Institutionen wie stadthistorische Museen oder Literatur- und Kulturinstitutionen und Literaturbüros diesem mehrsprachigen literarischen Erbe nicht annehmen.“
Unbequeme Arbeit, die Spaß macht
Nesrin Tanç sagt, bei ihren „sozialen, aber auch künstlerischen Recherchen“ laufe ihr die Zeit davon. Viel Wissen von Zeitzeugen, die bereits vor Jahrzehnten ins Ruhrgebiet gekommen sind, gehe verloren.
„Die Migration gehört zur Geschichte des Ruhrgebiets. Und die Kenntnis unserer gemeinsamen Vergangenheit ist wichtig für unsere gemeinsame Zukunft“, sagt Johanna-Yasirra Kluhs, Kuratorin von Interkultur Ruhr, einem Projekt des Regionalverband Ruhr, zu dem auch „Anatolpolitan“ gehört.
Wissenschaftlerin, Autorin oder Archivarin
„Meine Arbeit ist alles andere als bequem, macht aber Spaß“, sagt Nesrin Tanç. Immer wieder hinterfragt sie dabei ihre eigene Rolle: „Bin ich nun gerade Wissenschaftlerin, Autorin oder Archivarin?“. Die Grenzen sind fließend.
In diesem Jahr hat Nesrin Tanç eine weitere Recherche beendet: „Akkordarbeit im halbverbrannten Wald“. Es ist der Titel des fünften Kapitels im Stück „Perikızı – Ein Traumspiel“, einer Neuerzählung von Homers Odyssee. Geschrieben hatte es die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar auf Einladung von Ulrich Greb, dem Intendanten des Schlosstheater Moers, für das Kulturhauptstadtjahr Ruhr.2010.
„Akkordarbeit im halbverbrannten Wald“
Das Ergebnis ihrer „Akkordarbeit im halbverbrannten Wald“-Recherche wollte Nesrin Tanç mit ihren „Anatolpolitan“-Partnerinnen Silvia Dierkes (Illustrationen) und Mizgin Bilmen (szenische Umsetzung) Anfang April bei einer performativen Werkschau in Duisburg präsentieren. Dann wurde die Veranstaltung jedoch wegen der Corona-Pandemie abgesagt.
Als möglicher Nachholtermin ist nun Mitte Januar nächsten Jahres geplant, zunächst in Köln, bei der Akademie der Künste der Welt, später aber auch – und das ist Nesrin Tanç wichtig – im Revier. Denn: „Jede Aktion im Ruhrgebiet, die Menschen darauf aufmerksam macht, dass sie ihre Archive und Programminhalte erweitern müssen, um die Erinnerung an das literarische Erbe der Einwanderer zu bewahren, ist wichtig“.
Bisher erschienen in der Serie „Interkultur Ruhr“: