Essen. Er ist mehr als nur der gute Mensch von Köln – Wolfgang Niedecken ist auch im Alter noch einmal gewachsen.

Niedecken ohne Unterlass in Talkshows, Niedecken-Interviews dutzendfach in Zeitungen, ein ganzer Niedecken-Abend im WDR – das mediale Groß-Denkmal zum 70. Geburtstag am heutigen Dienstag ist längst errichtet.

Und wir kennen fast alle wichtigen Geschichten dieses farbenreichen Lebens, in dem Wolfgang Niedecken längst die seit Heinrich Bölls Tod 1985 vakante Stelle des „Guten Menschen von Köln“ eingenommen hat: vom Vater, dem erbsenzählerischen Kaufmann, der dauernd um das Auskommen seines Künstler-Sohns fürchtete und der zu früh starb, als dass er noch hätte erleben können, wie sich seine Sorgen auflösen im sprudelnden, bedingungslosen Grundeinkommen eines Popstars; von der wunderbaren Mutter, die unverbrüchlich hinter ihrem Wolfgang stand und dem Vater entgegenhielt: „Dä Jong moht jahrnix außer jlücklisch wäde!“; von dem Missbrauch durch einen Pallottiner-Pater in einem Internat, den er mit 13 erdulden musste; und von der alten Frau Herrmanns in der Altentagesstätte, der Niedecken zum 93. Geburtstag seinen ersten Song auf Kölsch schrieb, weil das nun mal ihre Sprache war.

Gegenentwurf zur Neuen Deutschen Welle: der andere Lindenberg

Das alles wäre allerdings reine Privatsache geblieben ohne die Geschichte von BAP, einer Feierabend-Kapelle von Kunsthochschulstudenten, die Anfang der 80er-Jahre der zwischen Dada, Gaga und Vergnügungssucht pendelnden „Neuen Deutschen Welle“ unversehens ein Stück Ernsthaftigkeit und politische Haltung entgegensetzt. Es gibt bei BAP zwar Klamauk wie „in dä Waschsalong“, aber eben auch soziale Empathie („Jupp“) und Engagement von Wackersdorf bis Bonn.

Und so wie der fünf Jahre ältere Udo Lindenberg in den siebziger Jahren die deutsche Sprache „easier“ gemacht hat für die Rockmusik, führte Niedecken dort mit Macht den Dialekt ein, nachdem zuvor nur österreichische Liedermacher wie Georg Danzer, Ludwig Hirsch und Wolfgang Ambros das versucht hatten. Dass die Menschen außer „Verdamp lang her“ vom größten BAP-Hit ungefähr so viel verstanden wie von den meisten englischsprachigen Songs und genau deshalb ihre eigene Vergangenheit hineinprojizierten, lässt Niedecken heute abgeklärt lächeln. Aber der erste Kölsch-Gesang jenseits des Karnevals begünstigte wohl auch die Genehmigung für eine Tournee der Band ausgerechnet durch das Einheitsmeinungsreich China. Die DDR jedenfalls wollte BAP 1983/84 den deutsch-deutschen Song „Deshalv spille mer hier“ verbieten – da streikte die Band und reiste ab.

Springsteen vom Rhein, Bob Dylan aus der Südstadt

Nach dem Fall der Mauer wandte sich Niedeckens Engagement gegen Ausländerfeindlichkeit („Arsch huh, Zäng ussenander“), schließlich setzte er sich nachhaltig für die Entwicklung des afrikanischen Kontinents ein, heute singt er, gegen die Klimakrise an. Aber nicht das Engagement, die Ausrüstung mit Gitarre und Mundharmonika im Nacken-Gestell war es, warum man ihn anfangs gern den „Bob Dylan“ aus der Südstadt nannte, während der „Musik-Express“ ihn ironisch zum „Springsteen vom Rhein“ erkor. Niedecken selbst weiß, dass er nicht in der Liga solcher Ikonen spielt – aber manche seiner Songs erreichen durchaus die Champions League des Genres, und auf dem 2015er-Album „Lebenslänglich“ sind gleich mehrere davon zu hören.

Das Album und Niedeckens Haltung durchweg sind geprägt von seiner Erfahrung des Schlaganfalls 2011, der durch das schnelle Handeln seiner zweiten Frau Tina glimpflich, ohne Spätfolgen blieb. Niedeckens Charakter hat der Schlag und das große Glück danach die neue Facette der Demut hinzugefügt. Sie lässt ihn, dessen Rockermähne eine edle Graufärbung angenommen hat, wie einen Weisen wirken. Vor sechs Jahren sang er in der Crescendo-Hymne „Alles relativ“ vor einem, der auf die 70 zugeht und sich fragt, ob ihm noch einer zuhört. Der sich sagt „Das Alter ist nur relativ“, aber „im dunklen Wald“. Und dann doch erkennt: „Nur wahre Liebe und der Tod / sind endgültig und absolut / mit nichts vergleichbar / wie’s aussieht / ist alles andre tatsächlich relativ.“ Auch dazu kann man Wolfgang Niedecken nur gratulieren.