Essen. Die 71. Berlinale wird zur Home-Office-Erfahrung, Filmfans müssen draußen bleiben: Das Festival startet ab Montag im Netz. Kann das gut gehen?
Binge Watching allein zu Haus statt Glamour, Stars und Publikum. So gespenstisch stellt sich die Festival-Lage ab dem kommenden Montag dar, wenn fünf Tage lang die 71. Berlinale ihr Programm für Presse und Filmhändler hinter virtuellen Türen präsentiert. Homeoffice heißt es für die Branche, Kino auf dem PC, Interviews als Videokonferenz. Filmfans müssen diesmal draußen bleiben beim sonst weltweit größten Publikumsfestival mit über 300.000 verkauften Kinokarten.
Als Trostpflaster für die Zuschauer wird der Rote Teppich vom 9. bis 20. Juni ausgerollt. Die Gewinner der Bären stehen dann freilich längst fest, die sechsköpfige Jury, diesmal alles ehemalige Gold-Preisträger, wird das Fell der Bären bereits Ende dieser Woche verteilen. Den Preisrichtern werden die Beiträge exklusiv in einem Lichtspieltheater vorgeführt, alle anderen müssen sich mit dem heimischen Monitor begnügen.
USA und Großbritannien glänzen bei der Berlinale durch Abwesenheit
Das Programm ist um die Hälfte abgespeckt. 160 Titel in allen Sektionen meldet die Festivalstatistik. Im Wettbewerb treten nur noch 15 Werke an; während die USA oder Großbritannien durch Abwesenheit glänzen, treten aus heimischer Produktion gleich vier Beiträge an. Für die Frauenquote sorgen Maria Schrader und Maria Speth. Erstere präsentiert mit „Ich bin dein Mensch“ eine romantische Komödie mit Robotern. Ihre Kollegin dokumentiert mit „Herr Bachmann und seine Klasse“ einen engagierten Pädagogen, der unermüdlich für seine Ideale kämpft.
Im deutschen Herrendoppel treten Dominik Graf und Daniel Brühl an. Der zehnfache Grimme-Preisträger wagt sich an Erich Kästner und verfilmt dessen „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“. Fast drei Stunden lässt er sich Zeit, um Tom Schilling als frustrierten Idealisten im Berlin der 30er-Jahre scheitern zu lassen. Im Berlin von heute spielt „Nebenan“, das Regiedebüt von Brühl, der zugleich die Hauptrolle übernimmt. Als großer Filmstar trifft er in einer kleinen Eckkneipe im Prenzlauer Berg auf einen notorischen Miesepeter, der sich als Verlierer der Wiedervereinigung und Gentrifizierungsopfer gefällt. Ausgedacht hat sich die Tragikomödie Erfolgsautor Daniel Kehlmann.
Bären-Bewährungsprobe unter schwierigen Bedingungen
Für reichlich Unmut im Vorfeld unter den Journalisten sorgte der Umstand, dass ihnen weder „Fabian“ noch „Nebenan“ gezeigt wird – weshalb Filme mit solchen Extra-Würsten überhaupt im Wettbewerb starten dürfen, bleibt das Geheimnis des neuen künstlerischen Leiters Carlo Chatrian. Er muss seine zweite Bären-Bewährungsprobe unter schwierigen Bedingungen abliefern. Beim Blick ins Programm lässt sich Vielversprechendes freilich kaum entdecken. Immer noch arabischer Frühling, immer noch Dreiecksgeschichten als Kammerspiel oder Vergangenheitsbewältigung. Dazu noch eine Doku über Pavarotti und eine weitere über Tina Turner.
Insgesamt liest sich das Programm eher wie cineastisches Knäckebrot. Das gilt besonders für die Talentschmiede „Perspektive deutsches Kino“, die wenig Entdeckerfreude versprüht. Leuchttürme und Oscar-Kandidaten sucht man in diesem Berlinale-Jahrgang vergeblich. Für die „Kritiker allein zu Haus“-Ausgabe heißt es ohnehin Pflicht statt Kür: Kein Publikum, keine Stimmung, weder Buh noch Bravo. Täglich ab 7 Uhr morgens stehen die Streams für 24 Stunden zur Verfügung. Die Berlinale als Binge-Watching-Ereignis kann kaum gut gehen.