Starke Sachthemen, große Panoramen, literarische Entdeckungen. Tipps zu guten Hörbüchern.

Abgrund NSU

Es gibt Geschichten aus unserer Wirklichkeit, die sind so groß, da kann die Kunst sich ganz knapp halten. Beispielhaft (und beklemmend intensiv) ist das einem eben erschienen Hörprojekt gelungen. So knapp der Titel, so klar der Erzählduktus: In „Saal 101“ war von 2013 bis 2018 438 Mal der NSU-Prozess beheimatet. Die Aufzeichnungen führender deutscher Gerichtsberichterstatter speisen die große Erzählung eines Gräuels, dessen Kern lange Zeit niemand erkannt hatte. Über zehn Stunden dauert Ulrich Lampens Dokumentarhörspiel. Die alles dominierende Beweisaufnahme konzentriert der Regisseur klug auf Schwerpunkte. Exzellente Sprecher von Bibiana Beglau bis Michael Rotschopf verleihen dieser verstörenden Chronik jene epochale Dimension, die Lampen so auf den Punkt bringt: „Der Stoff, mit dem wir es zu tun haben, ist erschreckend unfiktional!“ Ein preiswürdiges Hör-Ereignis! Saal 101. 12 CDs, 10,5h. Der Hörverlag, 49€

Panorama aus Neapel

Für Elena Ferrantes „neapolitanische Saga“ hat die Kritikerin Iris Radisch ein schönes Wort kreiert: „weibliche Nahgeschichte“. Tatsächlich öffnet die große, geheimnisumwobene Erzählerin uns die Augen vor allem mit den Blicken der Mädchen (später Frauen) Elena und Lila. Die 400 Romanseiten von „Meine geniale Freundin“ (Auftakt der Saga) hat Martin Heindl in ein brillantes Hör-Panorama transferiert. Das Bittersüße dieser süditalienischen Nachkriegszeit, die zarten Grauzonen zwischen Geschehnis und Gefühl, das Zerbrechliche in Nachbarschaft des Rohen, den schillernden Kosmos der Typen und Stationen: all das wird sehr feinfühlig inszeniert und ist durchweg fabelhaft besetzt. Herausragend: Rosalie Thomass und Christiane Roßbach. Meine geniale Freundin, 4 CDs, 3,5h. Der Hörverlag, 22h.

Wer ist Joe Biden?

Hat man einmal das Image des Kaum-Charismatikers, glauben die Menschen, es gebe nicht viel zu wissen über so ein Leben. Evan Osnos Porträt von Joe Biden belehrt uns eines Besseren. Wir treffen einen Mann, der wegen seines Ehrgeizes fast gestorben wäre, ein Stehauf-Naturell mit unberechenbaren Zügen, einen, der sich der künftigen Schwiegermutter einst mit dem Berufsziel „Präsident“ empfahl. Aber fernab des Anekdotischen zeichnet der Journalist Osnos auch den raffinierten Netzwerker und politischen Langstreckenläufer. Große Teile der Biografie sind vor jener Wahl entstanden, die aus einem US-Durchschnittspolitiker die personifizierte Wende machte. Das Werk ist nicht hyperkritisch, aber gewiss keine Heiligenlegende. Steffen Groth liest die Lebensgeschichte unpathetisch, doch mit nahbarem Ton. Die Frage, ob einer, der so oft gefallen ist, einer Nation helfen kann, wiederaufzustehen, stellt sich der Hörer mehr als einmal. Evan Osnos: Joe Biden. Ungekürzt. 1 mp3-CD, ca. 5,5h. Der Audio Verlag,