Essen. Bestseller-Autorin Elena Ferrante erzählt in „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“ einmal mehr von einem jungen Mädchen, das in Neapel aufwächst.

Mit ihrer Jahrzehnte umspannenden Freundinnen-Geschichte aus Neapel gelangte die Autorin, die sich Elena Ferrante nennt, zu Weltruhm: Ihre „Neapolitanische Saga“ hat sich allein in Deutschland zwei Millionen Mal verkauft, ist ein nunmehr feststehender Begriff der Literaturgeschichte und hat längst einen eigenen Wikipedia-Eintrag.

Wir erinnern uns: Die aufmüpfige, hochintelligente Lila und die eher angepasste, aber strebsame Elena wuchsen auf in einem der prekärsten Viertel Neapels. Wer das dort herrschende Spiel der Gewalten noch vor Augen hat – Macht, Neid, Unterdrückung und das Regelwerk der Mafia –, wird vielleicht verstehen, warum Giovannas Vater so angespannt ist, wenn die Familie zu den seltenen Familienbesuchen aufbricht: Wenn er sich mit Giovanna und seiner Ehefrau anschickt, von ihrer wolkenkratzenden Eigentumswohnung auf einem der reichen Hügel Neapels in die Niederungen der Stadt zu reisen, von ganz oben nach ganz unten im wahrsten Sinne, dann scheint es der 12-jährigen Giovanna stets, sie beträte eine andere Welt, laut, eng, voller Schimpfworte und schlechter Gerüche.

Der Roman begleitet Giovanna Anfang der 90er-Jahre durch die Pubertät

Und doch: Immerhin ist diese Welt authentisch, glaubwürdig. „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“, so der Titel von Elena Ferrantes neuem Coming-of-Age-Roman, begleitet Giovanna Anfang der 90er-Jahre durch die Pubertät und durch eine Zeit, in der die Gewissheiten der Kindheit in sich zusammenfallen: Die Eltern trennen sich, Giovanna fühlt sich ungeliebt – eines Abends belauscht sie einen Satz ihres Vaters, in dem er Giovanna mit ihrer Tante Vittoria vergleicht: Mit dieser hässlichen Schachtel, die früh die Schule verließ und als Putzfrau arbeitet. So jedenfalls erzählen es ihre Eltern, doch Giovanna beschließt, Tante Vittoria selbst kennenzulernen – und mit ihr eine riesige, herzliche, bösartige, in sich verknäulte Großfamilie.

Ein Reigen männlicher Nebenrollen – vielleicht bald auf Netflix zu sehen

Einmal mehr besticht Ferrantes Prosa durch detailscharfe Alltagsbeobachtungen, ein feines Gespür für gesellschaftliche Schichten und Regeln und vor allem einen mitfühlenden Blick auf ihre Figur – zuweilen hart am Rande des feministischen Überschwangs und des Kitsches. Stets aber fängt sich die Autorin in letzter Sekunde, fällt doch auf die Seite des ungeschönten Realismus. Die ungeschminkte Realität beinhaltet diesmal weniger brutale Schlägereien denn reichlich viele Szenen der sexuellen (Selbst-)Erkundung – wandelt sich doch gewissermaßen Giovanna von einer Elena zu einer Lila, vom braven Mädchen zur selbstbestimmten Frau. Und so gibt es, wenn der Streamingdienst Netflix von den bereits erworbenen Rechten Gebrauch und den Roman zur Serie macht, einen kleinen Reigen männlicher Nebenrollen zu besetzen.

Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Verlag Suhrkamp, 416 Seiten, 24 Euro.