Essen. Der Fluss, der dem Revier den Namen gab, hat endlich sein Standardwerk: Zwei Bände voller Aufsätze, von Ökologie bis Sport, von Sagen bis Kunst.

In einer Abwandlung von Heinrich Bölls berühmten Satz in seinem Band „Im Ruhrgebiet“ von 1959 könnte man sagen: Die Ruhr ist noch nicht entdeckt. In der Tat gab es bislang noch kein Standardwerk zu jenem Fluss, der nicht nur dem rheinisch-westfälischen Kohlenbezirk seinen Namen gab, sondern auch unzähligen Einrichtungen, die sich weit mitunter sogar in größerer Entfernung von jenem namensspendenden Gewässer befinden wie das Ruhrmuseum, die Ruhrfestspiele oder die Ruhrkonferenz.

Aber diese Standardwerklosigkeit hat nun ein Ende, und wie das im Ruhrgebiet vielleicht häufiger als anderswo geschieht, ohne dass man darin gleich einen Ausdruck der althergebrachten Tonnen-Ideologie sehen müsste: Es geschah mit gleich zwei schwergewichtigen Bänden unter dem Obertitel „Die Ruhr und ihr Gebiet — Leben am und mit dem Fluss“, die von der Brost-Stiftung mit ihrem Chef Bodo Hombach herausgegeben werden; mit ihren 3,1 Kilogramm erreichen diese beiden Bände zwar nicht ganz die viereinhalb Kilo Kampfgewicht der jüngst erschienenen Industriekultur-Bibel „Der Pott“, liegen aber klar über dem 600-Seiten-Wälzer „Die Stadt der Städte“, der 2019 erschien. Der Verdacht, potenzielle Leser damit erschlagen oder mindestens mundtot zu wollen, ist völlig unangebracht — das Ruhrgebiet hat nun einmal von allem sehr viel, und das zu bündeln oder gar zu verdichten ist nicht einfach, man frage nur Zeitungsredakteure der Region.

Schiffbarmachung vom „Alten Fritz“ angeordnet

Die Ruhr: In vielem war der heute 219 Kilometer lange, ursprünglich sehr wilde und windungsreiche Fluss der erste. Angefangen bei der Schiffbarmachung schon vor Beginn der industriellen Revolution in den Jahren 1776 bis 1780 unter dem „Alten Fritz“. Damals wurden viele Wassermühlen und Stauwehre beseitigt, damit Kohlen und Salz leichter transportiert werden konnten (etwa bis in die Niederlande, die ihre Kohlereviere in Belgien verloren hatten), bis zur Renaturierung, die bereits Anfang des 20. Jahrhunderts begann, als die Ruhr immer weniger für Kohlentransporte gebraucht wurde, weil der Bergbau in den Norden des Reviers wanderte.

Die vielen Stauseen etwa: Sie wurden mitnichten als die Wassergewinnungsquellen und Sportflächen angelegt, die sie heute sind, sondern sollten ursprünglich vor allem dafür sorgen, dass sich die groben Verunreinigungen des Wassers auf dem Boden des Gewässers absetzen. Und wahrscheinlich wurden an kaum einem Fluss so viele Schlitzpässe und Fischlifte eingebaut, damit Arten wie der früher in der Ruhr so häufige Lachs wieder den Fluss emporsteigen können, ohne in Schleusen oder Wehren hängenzubleiben. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Bergleute eine ganze Weile Fischerei mit Hilfe von Dynamit betrieben.

Westfalen und Rheinland, Fluss-Taufen und Heckrinder

Dass 169 Kilometer der Ruhr zu Westfalen gehören und die rheinische Ruhr nur 50 Kilometer kurz ist, dass die Ufer der Ruhr früher fast nur aus Schotter bestanden, bevor im Sauerland die Ufer-Wälder abgeholzt wurden und der dortige Lehmboden flussabwärts gespült wurde (wo man aus dem Uferboden dann Ziegelsteine backen konnte): Vor solchen Details strotzen die beiden Bände mit Aufsätzen von gut drei Dutzend Autorinnen und Autoren. Sie widmen sich einem breiten Spektrum von Themen, die von der Geologie und die Biologie des Flusses über die Fischerei und Landwirtschaft (bis hin zum Weinbau) bis hin zu Wohnformen zwischen Villa und Gartenstadt oder Kochen an der Ruhr reicht. Da geht es um Fluss-Taufen, um Kunst längs der Ruhr, um ihr Auftauchen in der Literatur, um Sagen, Schiffbau, Tourismus, Kraft- und Klärwerke sowie - natürlich - um Industriekultur.

Ob ein solches Standardwerk tatsächlich Empfehlungen für eine konsequente Eventisierung der Ruhr braucht, um sie mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken, sei dahingestellt. Denn dieses Ziel erreichen die beiden Bände, die sich in der fotografischen Ausstattung wie in manchen Details vielleicht öfter wiederholen als nötig gewesen wäre, doch schon durch ihre eigene Existenz.

Die Ruhr und ihr Gebiet — Leben am und mit dem Fluss. Hg. von Bodo Hombach. Bd. 1: Heimat Ruhr. Fluss, Tal, Siedlung seit Anfang des 19. Jahrhunderts, 420 Seiten; Bd. 2: Die Ruhr und das Ruhrgebiet. Fluss, Industrieregion, Strukturwandel seit Anfang des 19. Jahrhunderts. 408 Seiten. Aschendorf Verlag, zusammen 39,90 Euro.