Essen. Strukturwandel war immer: Der neue Aufsatzband „Die Stadt der Städte“ schildert auf 600 Seiten den Werdegang des industriellen Ruhrgebiets.
Wer wissen will, wohin er gehen könnte, sollte genau wissen, wo er herkommt. Insofern dürfte der neueste Sammelband zur Ruhrgebietsgeschichte unter dem Titel „Die Stadt der Städte“ nicht nur wegen seiner 2,4 Kilogramm ein gewichtiges Fundament abgeben. Rund 50 Autoren, allesamt ausgewiesene Kenner des Reviers, haben den roten Faden in der Entwicklung der Region während der zurückliegenden 200 Jahre beschrieben: „Das Ruhrgebiet und seine Umbrüche“. Strukturwandel, auch wenn man das Wort hier kaum noch hören mag, war schließlich immer, seit mit der anschwellenden Kohleförderung die deutsche Industrialisierung unter Volldampf geriet.
Für Michael Farrenkopf, als Leiter des Montanhistorischen Dokumentationszentrums im Bergbaumuseum Bochum einer der vier Herausgeber des Aufsatzbandes, ist die Montanmitbestimmung, die zivilisierte, geregelte Suche nach Kompromissen und einem Konsens, das Erbe, das dem Ruhrgebiet künftig auch neue Wege bahnen könnte: „Das Ruhrgebiet sollte den Geist dieses korporatistischen Modells noch ernster nehmen, auch in der Art und Weise, miteinander umzugehen.“
Warnung vor nostalgischer Verklärung und Idyllisierung
Der in den vergangenen fünf Jahren erarbeitete Band „Die Stadt der Städte“ schildert in 14 Kapiteln die Geschichte der Region zwischen Moers und Hamm, die aus einem unkontrolliert wuchernden „Revier der großen Dörfer“ hervorging und sich deshalb wohl nie in „eine urbane Ruhrstadt“ verwandeln wird. Abgehandelt wird vieles von der Geologie und den (wirtschaftlich geformten) Landschaften über die diversen Industrien (auch jenseits von Kohle und Stahl: Chemie, Maschinenbau, Energie und Einzelhandel) bis hin zu Parteien und politischen Strukturen oder der Wissenslandschaft, die ja nicht erst mit der Gründung der ersten Universitäten in Bochum (1965) und Dortmund (1969) begann. Die Spannbreite ist sehr groß, neben Kapiteln zum Fußball, zur Einwanderung, zur Gesundheitswirtschaft und zum Tourismus erörtert man auch die „Problematik erinnerungskultureller Homogenität“. Gewarnt wird denn auch mehrfach vor der „nostalgischen Verklärung und Idyllisierung der industriellen Vergangenheit“ .
Das Buch
„Die Stadt der Städte. Das Ruhrgebiet und seine Umbrüche.“ Hg. von Michael Farrenkopf, Stefan Goch, Manfred Rasch und Hans-Werner Wehling. Klartext Verlag, 608 Seiten, 29,95 Euro. Der Band enthält neben mannigfaltigen Karten auch zahlreiche selten gezeigte Fotos.
Übereinstimmend stellen mehrere Autoren zudem fest, dass man im Ruhrgebiet „Stolz bestenfalls defensiv formuliert“ und „sich gern unter Wert verkauft“; aber auch, dass es hier bei allem Wandel einen starken Strukturkonservatismus gibt. Der Historiker Guido Hitze, der die Planungen für ein nordrhein-westfälisches Haus der Geschichte leitet, stellt in diesem Zusammenhang die These auf, dass ein Konglomerat aus SPD, Gewerkschaften und Verwaltung im Revier die väterliche Bevormundung durch die alten Ruhrbarone fortgeschrieben hätten – auch wegen eines „hohen Stellenwerts der sozialen Geborgenheit“. Und der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der zehn Jahre lang das Kulturwissenschaftliche Institut in Essen geleitet hat, wundert sich gar über die „unendliche Geduld der Belegschaften“ angesichts von „kapitalen Böcken im Management“ der Stahl-, der Automobil- und der Energie-Industrien. „Das Land tief im Westen“, so Leggewie, müsse handeln, wenn es nicht der „neue Osten“ sein will: mit einer „klima- und umweltverträglichen Reindustrialisierung“, die „seine polytechnischen Talente zum Glänzen bringen könnte.“
Zuständigkeitsgrenzen überschreiten
Dass jedoch „die Infrastruktur des Reviers wesentlich vernachlässigt worden“ ist und es seit zwei Jahrzehnten kein umfassendes Programm fürs Ruhrgebiet mehr gegeben hat, stellt der Band ebenfalls fest. Und so betonte Stephan Holthoff-Pförtner (CDU), Landesminister für Bundes- und Europaangelegenheiten bei der gestrigen Vorstellung des Bandes „als Minister mit der Zuständigkeit für die Ruhrkonferenz“, dass diese Einrichtung ausschließlich solche Projekte fördern werde, die „Zuständigkeitsgrenzen überschreitend Mehrwert erzeugen.“