Essen. Der Dunkelsänger auf dem Gipfel: „Idiot Prayer: Nick Cave Alone at Alexandra Palace“ ist ein intensives Hör-Erlebnis – voller Gefühl und Poesie.
Der Singer-Songwriter allein mit seiner Gitarre oder seinem Klavier, da klappern die geschwätzfreudigen Promotion-Abteilungen der Musikindustrie ganz gerne mal mit Wörtern wie „Essenz“ und „minimalistisch“. Man käme in solchen Fällen schon aus Trotz gern zu einer anderen Einschätzung. Aber bei „Idiot Prayer: Nick Cave Alone at Alexandra Palace“ hilft aller Widerstand nichts. Es ist tatsächlich ein Nick Cave, der besser klingt als je zuvor. Er hat seine oft überbordende, vielleicht sogar unfreiwillig ironische Theatralik auf wohltuende Weise im Zaum gehalten, als er da im Juni dieses Jahres absolut coronakonform Hof hielt in London.
Eigentlich war die Aufnahme als Streaming-Event gedacht, aber dann muss irgendwem die Qualität dieses Abends ganz ohne die Bad Seeds oder die Grinderman-Kombo aufgegangen sein. Ohnehin war Cave ja schon rund um die Jahreswende auf seiner „Conversations with Nick Cave“-Tournee in spartanischer Ausrüstung unterwegs , aber im Sommer ließ er dann auch die Plaudereien mit den Fans weg. So wurde es intensiv wie selten, das Zusammenspiel von Caves Gesang und seinem konzentrierten, moll-lastigen Tastenanschlag.
„Dekonstruierte Versionen“ bekannter Cave-Klassiker
Der Meister selbst spricht von „dekonstruierten Versionen“ solcher Cave-Klassiker wie „The Mercy Seat“, „The Ship Song“ oder „Into My Arms“. Dabei ist eigentlich nur der ganze Ballast und Zierrat weg, den man mögen kann oder nicht, der aber gar nicht notwendig ist, wie diese Versionen nun deutlichstens vor Ohren führen. Es ist überhaupt keine Musik zum Nebenbeihören mehr. Wer versucht, währenddessen noch anderen Dingen nachzugehen und Ohren hat zu hören, wird unweigerlich innehalten oder sollte sich zumindest was schämen im Bewusstsein, ein Sakrileg begangen zu haben. Hier zeigt sich ein Mensch nicht nur solo, sondern ganz und gar allein, wie das All ihn ließ, einsam und nackt, da wird man doch wohl mal ein paar Minuten zuhören können.
Was sonst bei Mr. Cave gern wie dick aufgetragenes Pathos daherkommt, als Pose oder Emo-Masche, wird nun ganz Gefühl, Poesie und schmerzhaftes Ausloten von Lebens-Abgründen. Für Scherz, Satire und Ironie ohne tiefere Bedeutung fehlt Nick Cave nach dem tödlichen Klippen-Sturz seines 15-jährigen Sohns Arthur unter Drogeneinfluss das nötige Fundament der Selbst- und Lebensgewissheit. Es scheint, als sei Cave durch ein Meer von Trauer hindurchgekommen und geläutert, vielleicht trifft dieses Album auch so ins Mark, weil die Seelen, in die wir hier blicken dürfen, alle zusammen Nick Cave ausmachen.
Wer sich davon nicht bewegen lässt, hat ein Herz aus Holz
Nicht leicht, unter den 22 Songs welche hervorzuheben, aber das ewig alte „Sad Waters“ klang schon lange nicht mehr so intensiv in seiner verspielten, manchmal sogar hymnischen Harmonik. Oder die Grinderman-Nummer „Palaces of Montezuma“: Wer sich davon nicht bewegen lässt, hat längst ein Herz aus Holz.
Der einzige Nachteil dieses Album: Es lässt das nächste Cave-Konzert fürchten. Es dürfte verdammt schwer werden, noch einmal so gut zu sein, selbst für einen Offenbarungs-Künstler wie Nick Cave.