Gelsenkirchen. Bis Februar dicht machen oder mutig die Öffnung fordern? Corona fordert MiR-Intendant Michael Schulz schwierige Entscheidungen ab. Ein Gespräch

Dieses Interview hätte man auch an der Rheinoper oder dem Bochumer Schauspielhaus führen können, bei gleichem Thema: Was macht die lange Corona-Strecke mit einem großen Theater und den Menschen, die dort arbeiten? Michael Schulz (Musiktheater im Revier) ist dienstältester Opern-Intendant an Rhein und Ruhr. Lars von der Gönna sprach mit ihm.

Wie würden Sie Ihren Zustand beschreiben, Herr Schulz?

Schulz: Bis letzten Mittwoch habe ich wegen einer Begegnung mit einem Infizierten zu Hause in Quarantäne gearbeitet. Woran ich arbeite: den Betrieb zu leiten . Und der ist damit beschäftigt, sich für eventuelle Öffnungen bereit zu halten: zu produzieren und zu probieren.

Persönlicher gefragt: Was geht in Ihnen vor?

Was in fast jedem vorgeht: Man vermisst Begegnungen oder, wie Johan Simons es genannt hat, „berührt zu werden“. Als Theatermachender versinkt man in eine Unsichtbarkeit, die unser Metier einfach nicht kennt. Ich halte mich selber für sehr stabil, aber das führt bei vielen Kollegen zu einer zunehmenden Nervosität und durchaus einer Form von Vereinsamung.

„Für Öffnung bereithalten“ sagen Sie, eine Art „Stand by“ der Kunstbetriebe. Viele empfinden das als Tortur. Ihr Kollege Ostermeier hat vorgeschlagen, das ganze An/Aus-Theater endlich zu lassen und zum Schutz aller Beteiligten bis Februar einfach alles dicht zu machen.

Es ist ein Gedanke, der auch mich umtreibt. Verlässlichkeit ist auch in der Kunst eine Bedingung, um auch vernünftig planen und denken zu können. Ein Künstler arbeitet immer auf ein Ziel, ein Produkt hin. Es ist kontraproduktiv , nicht zu wissen, ob und wann er es zeigen kann. Als permanenter Zustand ist das wirklich hart.

Was das Weiterspielen angeht: Noch zur Spielzeiteröffnung haben Sie Karten für einen Musical-Knüller wie Chicago, der Anfang 2021 läuft, verkauft. Heute muss ich fragen: War das Mut oder Übermut? Umtauschaktionen binden ja wahnsinnige Energien...

Die Gratwanderung heißt „Nummer sicher und gar nichts verkaufen“ oder „risikofreudig“. Wir waren risikofreudig. Wir sind optimistisch – gewesen. Da steckte eben auch das Prinzip Hoffnung drin. Das ist mir jedenfalls lieber als mich zu beschneiden. Ich möchte lieber handeln als behandelt werden.

Ich habe viel Respekt, vor Ihrem Wunsch weiterzuspielen. Aber persönlich litt ich in jeder „Corona“-Vorstellung vor dem neuen Lockdown. Das waren Geisterspiele! Ein dreiviertelleerer Saal: tot!

Noch mehr als den Künstler fehlt sicher dem Publikum selbst derzeit eine „Temperatur“. Eine bestimmte Energie entsteht einfach nicht: Nähe, Wärme, Atmosphäre. Das Theater erzählt Geschichten – sie nicht alleine zu empfangen sondern als Gemeinschaft, ob es das Lachen oder Mitfühlen ist, das ließen die Corona-Regeln einfach nicht zu.

Ich stelle mir Ihren Posten derzeit tief gespalten vor: Sie sind als Regisseur selbst Künstler, der solidarisch sein will, etwa mit Freischaffenden in Not. Zugleich sind sie in einer extremen Krise als Chef gehalten, die Mäuse mehr zusammenzuhalten denn je. Zerreißt einen das?

Absolut. Vor allem, was die betrifft, die nicht fest bei uns angestellt sind. Denen haben wir zuletzt in regelmäßigen Abständen sagen müssen: Tut uns leid, wir müssen verschieben oder gar absagen.

Übersetzt: Kein Geld! Eine Sopranistin, die frei schaffend ist, trägt aufgrund der Pandemie ihr unternehmerisches Risiko und bekommt derzeit von einem Opernhaus, in dem sie jetzt eigentlich hätte singen sollen: nichts?

So ist es leider oftmals. Das MiR konnte zahlen, aber die Versuche einer flächendeckenden Vereinheitlichung der Zahlungen sind schwierig. Theater gehören ja zu verschiedenen „Mutterkonzernen“. Es kann sein, dass ein Theater etwa als GmbH gutwillig eine Gage zahlt, obwohl die Vorstellung ausfällt, und dann von oben gerügt wird. Ein echtes Dilemma. Corona bringt uns Theaterleute an Punkte, für die wir gar nicht auf diese Sessel gesetzt worden sind. Wir sollen ja Kunst ermöglichen, nicht verhindern.

Letzte Frage: Kommen Intendanten eigentlich auch in Kurzarbeit?

Nee, Intendant und Geschäftsführer sind die einzigen Positionen, die nicht in Kurzarbeit gesetzt werden können, weil wir keine Tarifverträge haben, sondern frei verhandelte.

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OFFENER BRIEF

Michael Schulz gehört zu den Intendanten, die letzte Woche in einem Offenen Brief, „ratlos und wütend“ die politische Entscheidung zur pauschalen Schließung von Theatern in Corona-Zeiten beklagt hatten.

Das Musiktheater im Revier hat 302 fest angestellte Beschäftigte . Für alle hat die „Musiktheater im Revier GmbH“ derzeit bei der Agentur für Arbeit Kurzarbeit beantragt.