Essen. Ein krankes Hirn erträumt sich Lebensglück: Glucks „Orfeo ed Euridice“ hatte Samstag Premiere am Aalto. Auch Ärzte kommen auf der Bühne zu Wort.

Wir wissen nicht, was in Paul-Georg Dittrichs Händen aus dem Essener „Tannhäuser“ geworden wäre – die geplante Wagner-Eröffnung ist ein Corona-Opfer. Ein szenischer Gesundbrunnen ist das Aalto-Theater freilich auch mit dem Ersatz nicht geworden: Glucks „Orfeo ed Euridice“ bringt zur Partitur noch eine dicke Krankenakte mit.

Korrektur: Des Sängers Orpheus geliebte Gefährtin ist für ärztliche Hilfe wenig empfänglich, da bekanntlich tot samt Aufenthaltsort in der Unterwelt. Doch jener Mythos, der so oft in der Musikhistorie sein Echo fand, zeigt Liebe als zu bestehende Prüfung über alles Endliche hinweg: Anders als im antiken Original rührt Orpheus bei Gluck die Schicksalsmächte trotz Regelbruch – seine schöne Nymphe wird lebendig an seiner Seite.

Statt des geplanten „Tannhäuser“ eröffnete Essens Aalto-Theater jetzt mit „Orfeo ed Euridice“ die Saison

Dieser Erzählung erteilt die Samstag aus der Taufe gehobene Deutung eine klare Absage. Spätestens jene die Aufführung zerhackenden filmischen Auftritte führender Neurologen des Ruhrgebiets lassen keinen Zweifel: Diese Geschichte einer wiedererweckten Liebe ist bloß die Kopfgeburt des Koma-Patienten Orpheus. Wir hätten es wissen können: Eingang hat die massive Wucht des Eisernen Vorhangs das Schicksal des geistig Eingekapselten illustriert. Und die quälende Blend-Attacke der Scheinwerfer Richtung Publikum setzt gleich zu Beginn aufs gleißende Weiß einer Nahtoderfahrung.

Mit seinem Weg übers Pathologische fügt Dittrich einem nicht eben originellen Zugriff auf Opernstoffe kaum Neues zu. Vor dem Lockdown war Puccinis „Bohème“ an der Rheinoper die Retro-Therapie eines Künstlers. Selbst Dittrich nutzt die Perspektive nicht zum ersten Mal. Schon sein Bremer „Faust“ (Berlioz) delirierte alles Erleben, samt Röntgenbild und EKG.

Die Regie von Paul-Georg Dittrich setzt auf die Fantasie-Welt eines Hirnkranken

In Essen erkämpft sich aus fahler Leere (Bühne ebenfalls Dittrich) ein Kranker die Bilder jenes Lebens, das allein Traum ist und Sehnsucht. Das Ich als Du? Nun, den Gedanken sollen Bilder folgen: Als Orpheus in den Hades taucht, malt Video-Designer Vincent Stefan üppig das Glück gefundener Herzen aus, unter Wasser, ansehnlich vollzogen von zwei Tänzern des Aalto-Balletts. Allerdings, so sind wir nun einmal medial sozialisiert, zieht solches Kopfkino den Fokus klar weg von den Sängern. Unnötig provinziell: Einspieler von Zollverein und der Essener Fußgängerzone.

Musikalisch spielt dieser Gluck in einer anderen Liga. Bettina Ranchs Orfeo (im Kleid, identisch gewandet wie Euridice) ist ein Ereignis. Welch’ herrliche Tiefen ihr Mezzo bereithält: voluminös, warm, enorm sinnlich. Tamara Banješevićs singt Euridice singt mit einnehmendem Reifegrad. Christina Clarks silbrige Amorstimme findet ihren Körper per Geistererscheinung. Unheil und Trost sandte man vielstimmig von der Galerie: Der souveräne Opernchor sang im Rang. Überragend Essens Philharmoniker, nicht allein wegen Gabriele Bambergers betörendem Harfenspiel. Grandios verschwistern die nur 25 Musiker unter Tomáš Netopils Leitung Hochspannung und raumgreifende Transparenz.

Die pausenlosen 80 Minuten zogen sich dennoch nicht selten, ein radikaler Erkenntnisgewinn ist kaum zu verzeichnen. Am Ende freundlicher Beifall, in den sich etwas Fan-Gequietsche mengte.

Termine/Karten 0201-8122200.