Dortmund. Sperrige Texte auf die Langstrecke gebracht: In „2170“ laufen die Zuschauer quer durch die Stadt – und erleben Theater mit vielen Überraschungen.

Über das Coronavirus lassen sich gewiss viele schlimme Dinge schreiben. Dem Start der Intendanz von Julia Wissert am Theater Dortmund hat es aber ausnahmsweise geholfen. Unter dem kryptischen Titel „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?“ bringt sie Texte von fünf jungen Autoren zur Uraufführung, von denen einer sperriger als der nächste ist.

Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie all diese kaum zu durchdringenden Kopfgeburten ungebremst auf die Zuschauer im Theatersaal losgelassen hätte, wie es ursprünglich wohl der Plan war. Dem Virus und den Abstandsregeln sei Dank findet Wissert stattdessen eine kluge Alternative: Sie trägt die Wortgebirge hinaus auf die Straßen, mitten hinein in die Dortmunder City. Und das ist die beste Entscheidung dieses Abends.

Julia Wissert ist Deutschlands jüngste Intendantin

Mit 36 Jahren ist Julia Wissert Deutschlands jüngste und zugleich erste schwarze Intendantin. Der unbändigen Experimentierlust ihres erfolgreichen Vorgängers Kay Voges begegnet sie mit wacher Neugier und spricht dabei druckreife Sätze, die ihr derzeit eine riesige mediale Aufmerksamkeit einbringen. Etwa solche: „Wir sind nicht hier, um das Rad neu zu erfinden. Wir sind hier, um herauszufinden, wie man es vielleicht neu drehen könnte.“

Ihr Dortmunder Einstand ist ein solcher Versuch, altbekannte Erzählmuster mit neuen, kreativen Ideen zu kombinieren. Gemeinsam mit Dramaturgin Sabine Reich lädt sie dafür zu einem rund dreistündigen Marsch durch die Stadt ein. Angeführt von gut gelaunten Guides, machen sich drei Gruppen mit jeweils 25 Theatergängern zeitversetzt auf den Weg zur einer Stadterkundung der besonders spitzfindigen Art. Fünf Stationen hat man am Ende erlaufen, fünf szenische Miniaturen gehört, nur vom Hauptbahnhof bis in die Nordstadt fährt ein Bus.

In dichtem Nebel betritt der Zuschauer ein "neues Portal"

Start und Ziel ist das Schauspielhaus, wo man zu Beginn auf der Bühne in dichtem Nebel hinter dem Eisernen Vorhang steht und in ein „neues Portal“ tritt. Denn „2170“, so der gewaltige dramaturgische Überbau, möchte aus der Zukunft zurück in die Gegenwart schauen und dabei mancherlei Gedanken über unsere Welt und das Leben in Dortmund im Speziellen finden. Dass die qualitativ leider nur mageren Texte diesen Anspruch selten einlösen, ist indes ein ziemliches Problem.

Spannend wird der Abend besonders dann, wenn sich die Welten mischen und der Zuschauer plötzlich nicht mehr weiß, was genau zum Spiel dazu gehört und was nicht. So steht der Schauspieler Adi Hrustemović in einer Szene vor der Katharinentreppe neben dem Fußballmuseum und ruft energisch eine „neue Republik der Spaziergänger und Vielleserinnen“ aus, während eine Frau mittendrin um „ein, zwei Euro“ bettelt und ein paar halbstarke Jugendliche etwas entfernt beinahe eine Prügelei anzetteln. Großes Theater! Solche Zufälle treibt Wissert am Multiplex-Kino hinter dem Bahnhof auf die Spitze, wenn sich plötzlich Statisten in die Szene mischen und Valentina Schüler als misshandelte Braut in einem weißen Mercedes davon fährt.

Gespenstische Szenen vor dem "Horror-Hochhaus"

Zu einiger Form laufen die Autoren immer dann auf, wenn sie sich an konkreten Orten und Geschichten abarbeiten können, statt nur schwer verständliche philosophische Weisheiten zu verbreiten, die meist ohnehin vom Verkehrslärm geschluckt werden. Eindrücklich gelingt dies der kurdisch-deutschen Schriftstellerin Karosh Taha beim Zwischenstopp vor einem riesigen Gebäude an der Kielstraße, das als „Horror-Hochhaus“ Schlagzeilen machte. Seit 18 Jahren steht das Haus leer und dient seither höchstens als Schauplatz für gespenstische Drogenpartys, im nächsten Jahr soll es abgerissen werden. Taha erzählt feinfühlig die Geschichten der Menschen, die hier auf 17 Etagen unter einem Dach lebten, ehe erneut der Blick in die Zukunft geht, wenn die Abrissbagger kommen und den Beton-Riesen platt machen.

Für einen kurzen Epilog führt Wissert die Zuschauer zurück ins Schauspielhaus. Auf den Schlussapplaus im klassischen Sinne scheint sie also doch nicht verzichten zu wollen. Die Premierengäste, mittlerweile ziemlich durchgefroren, spenden relativ kurzen, freundlichen Beifall. Auf weitere Theaterabenteuer der jungen Intendantin und ihres ebenso jungen, aber hellwachen Ensembles darf man gespannt sein.

Info: Weitere Spieltermine

Dauer: ca. 3 Stunden ohne Pause. Für einen Besuch empfiehlt sich festes Schuhwerk und wetterfeste Kleidung. Während des Parcours brauchen keine Atemmasken getragen zu werden.

Wieder am 26., 27, 29. und 30. September sowie 1., 2. und 3. Oktober. Karten: 0231 / 50 27 222.