Dortmund. Kay Voges erinnert sich an abenteuerliche zehn Jahre in Dortmund, die ihn einige Zähne und Geduld kosteten, aber auch gute Erfahrungen brachten.

Der rote Stern auf dem Dach ist abmontiert: Nach zehn Jahren verlässt Kay Voges das Schauspielhaus Dortmund, das unter seiner Intendanz zu einer der führenden Bühnen in NRW geworden ist, und fängt noch einmal von vorne an. Im Herbst übernimmt er die Leitung des Volkstheaters Wien. Für sein Gespräch mit Sven Westernstroer, zugleich das letzte Gespräch an alter Wirkungsstätte, hat sich Voges einen für ihn magischen Ort ausgesucht: die leere Bühne. Der Abschied fällt ihm sichtlich schwer. Am Ende lässt er den Eisernen Vorhang herunter.

Gehen Sie schweren Herzens?

Kay Voges: Auf jeden Fall. Unsere Abschiedsfeier, die wir wegen der Corona-Pandemie nur online ausstrahlen konnten, hat unser ganzes Team tief berührt. Das sind immerhin 200 Menschen, die im engeren Umkreis des Theaters arbeiten. Aber ich gehe auch mit großer Dankbarkeit für das, was wir hier gemeinsam schaffen konnten. Wir hatten ein super Publikum, das uns durch all die Höhen und Tiefen der letzten Dekade getragen hat. Von daher bin ich auch aufgeregt und neugierig darauf zu sehen, was mich in Wien erwarten wird.

Zur Person

Kay Voges (48) war bis zum Ende dieser Spielzeit Intendant des Schauspiels Dortmund und wechselt jetzt als Direktor an das Volkstheater Wien. Unter seiner Leitung wurde am Theater viel experimentiert, wurden neue Techniken und Erzählweisen ausprobiert. Die Sanierung der Bühne von 2015 bis 2017 überbrückten Voges und sein Team im „Megastore“, einem ehemaligen Fanshop des BVB in Dortmund-Hörde.

Ist denn in den letzten Jahren ein echter Ruhrpottler aus Ihnen geworden, ein „Ruhri“?

Na ja, nach 15 Jahren Ruhrgebiet kann ich schon sagen: Das ist meine Heimat, die ich vermissen werde. Letztens habe ich tatsächlich davon geträumt, dass ich dringend noch eine Currywurst essen muss, bevor ich gehe. Und bisweilen komme ich auch wieder zurück: Der Akademie für Theater und Digitalität werde ich als guter Geist weiter treu bleiben. Denn das ist einfach eine großartige Idee, die ich unbedingt weiter unterstützen möchte.

Worum geht es da genau?

Unsere Akademie, die wir 2017 gründeten, ist ein europaweit einzigartiges Projekt, das sich die Aufgabe gestellt hat, die Theaterkunst fürs digitale Zeitalter zu erforschen. In der Corona-Zeit ist die Verbindung von Digitalisierung und darstellender Kunst plötzlich in aller Munde, denn fast alle Bühnen streamen ihre Stücke im Internet. Unsere Stipendiaten unter der künstlerischen Leitung von Marcus Lobbes haben in den letzten Wochen einigen Theatern das Knowhow dafür vermittelt. Doch wir wollen auch Wege finden, wie man das Theater in die digitale Welt überführen kann, ohne nur platt die Aufführungen abzufilmen. Momentan ist die Akademie hier im Haus, im Jahr 2022 soll der Neubau im Dortmunder Hafen fertig sein. Dann wird alles auf ein nächstes Level kommen.

Als Sie vor zehn Jahren in Dortmund antraten, setzten Sie auf einen radikalen Schnitt zu Ihrem Vorgänger Michael Gruner.

Wir haben sicherlich viele Versuche gestartet, das Theater neu zu denken und anders zu erzählen. Damit haben wir einige Impulse gesetzt, die auch überregional Beachtung gefunden haben. Eine Inszenierung wie „Die Parallelwelt“, in der wir einen Theaterabend an zwei Bühnen in Dortmund und am Berliner Ensemble gleichzeitig aufführten, hatte schon einigen Pioniergeist.

Kay Voges,
Kay Voges, © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Welchen größten Hindernissen standen Sie gegenüber?

Ich glaube, dass ich seit der Sanierung unseres Theaters zu einem echten Brandschutzexperten mutiert bin. Erst kommt der Brandschutz, dann die Kunst. Diese eiserne Regel habe ich hier wirklich gelernt, und sie tut einem Kunstschaffenden weh. Auch die Bürokratie, so notwendig sie auch sein mag, ist für mich schwer zu ertragen. Da versucht man immer schnell und wendig zu sein und merkt dann, dass die Verwaltungsaufgaben im Vorfeld manchmal doch langwierig sein können. Aber diese Erfahrungen gehören zum Job des Intendanten wohl dazu.

Was ist Ihnen gehörig schief gegangen?

Beim Theatermachen kämpft man immer um das Gelingen. Und für das, was wir alles mutig erkämpfen wollten, ist uns eigentlich recht viel gelungen. Aber wenn einem das Theaterlabor manchmal um die Ohren fliegt, dann darf man sich nicht wundern. „Die Nibelungen“ mussten wir 2013 wenige Tage vor der Premiere absagen, weil wir uns eingestehen mussten, das einfach nicht geschafft zu haben. Deswegen finde ich diesen Spruch von Samuel Beckett so schön, der gesagt hat: „Scheitern, scheitern, besser scheitern.“ Das erzählt viel über den permanenten Kampf auf der Probebühne.

Und woran denken Sie besonders gern zurück?

Die Zeit im „Megastore“, unserer Ausweichspielstätte während der Sanierung auf Phoenix-West, war schon besonders, weil wir hier als Team echt zusammenwachsen mussten. Die Umstände waren teils katastrophal. Es war kalt und viel zu eng, wir hatten eine Toilette für 70 Leute. Trotzdem haben wir es geschafft, daraus eine Art überlangen Abenteuerurlaub zu machen, der insgesamt zweieinhalb Jahre dauerte. Das war wirklich grenzwertig. Doch diese Nähe hat auch Reibungswärme erzeugt, wodurch außergewöhnliche Abende wie „Die Borderline-Prozession“ entstanden sind, die uns immerhin eine Einladung zum Berliner Theatertreffen eingebracht hat. Was uns hier wirklich ausgezeichnet hat, war das Verliebtsein ins Gelingen. Und es gab einen sehr respektvollen und uneitlen Umgang miteinander. Die Kunst hatte stets ein höheres Gewicht als die persönlichen Eitelkeiten. Das war schon eine echte Bande, die wir hier gebildet haben. Und wir haben immer versucht, neue künstlerische Impulse zu bekommen, um nicht bequem zu werden.

Welches Verhältnis hatten Sie zu Ihrem Publikum?

Ich bin ein Fan von den Dortmundern. Dabei ist uns beileibe nicht nur Liebe entgegen gebracht worden. Mal wurde gebuht und es wurden Türen geknallt, mal stand der ganze Saal zu Standing Ovations. Genau diese Ehrlichkeit hat mich immer gefreut. Als wir hier ankamen, waren wir ein Schreck für viele. Aber die Neugierde der Leute war größer als der Kulturschock, den wir ihnen zugemutet haben. Wir haben uns einander angenähert und voneinander gelernt.

Dabei haben Sie allerdings auch manchen verloren, der Ihren etwas unkonventionellen Wegen nicht folgen wollte.

Na ja, Theater ist immer eine Gegenwartskunst und befindet sich in einem permanenten Wandel. Genau das wollte ich stets vermitteln. Theater ist an jedem Abend ein neuer Versuch, ein neues Scheitern, ein neues Abenteuer. Dass wir davon nicht jeden einzelnen überzeugen können, liegt wohl in der Natur der Sache.

Als künftiger Leiter des Wiener Volkstheaters werden Sie nicht mehr Chef des ersten Hauses am Platze sein, sondern hinter dem Burgtheater zurückstehen. Stört Sie das?

Nein, denn ist ja hier genauso. Neben den großen NRW-Bühnen in Bochum, Düsseldorf und Köln waren wir immer die Underdogs. Und diese Rolle gefiel uns auch ganz gut, denn daraus kann man eine große Energie ziehen.

Nehmen Sie etwas mit nach Wien? Ein Andenken an die Zeit hier?

Auf jeden Fall. Das Kostbarste, was ich mitnehme, ist meine Ehefrau, die ich hier kennengelernt und geheiratet habe. Wir ziehen jetzt weiter. Ich selbst bin ein anderer geworden in diesen zehn Jahren. Ich habe einige graue Haare gekriegt und ein paar Zähne verloren. Ich habe viel Realpolitik erlebt. Dabei habe ich aber auch viele intensive Begegnungen mit Menschen gehabt und so viel Schönheit gesehen, was alles meinen Blick auf die Welt verändert hat. Das war eine unfassbar inspirierende Zeit.