Essen. . Leid und Liebe, Machismo und Mafia: Elena Ferrante bringt im vierten Neapel-Band noch einmal alle Motive zusammen – und hält ihrer Heimat Italien einen Spiegel vor.

Familiensaga, Emanzipationsgeschichte, Mafia-Krimi, soziologisches Sittengemälde und Geschichtsbuch: Das alles ist Elena Ferrantes Neapel-Saga, die nun mit dem vierten und letzten Band nach 2200 überbordenden Seiten zum Abschluss kommt. Die schiere Textmasse allerdings erklärt weder die weltweiten Verkaufsrekorde noch die ebenso große feuilletonistische Begeisterung für ein Werk, das im Kern einen schlichten Frauenroman in sich trägt, eine Jahrzehnte umspannende Geschichte der ungleichen Freundinnen Lila und Elena. Und selbst das prickelnde Rätsel um die Identität der Autorin ist höchstens kleiner Teil des großen Vergnügens.

Ein lustvolles Spiel mit Spiegelungen

Das Ferrante-Fieber wird indes befeuert von ihrem lustvollen Spiel mit Spiegelungen, angefangen bei den Dopplungen literarischer Motive über das grelle Bild der italienischen Gesellschaft – bis hin zu jenen Sätzen, in denen sie Autorinnenschaft, Lesererwartungen oder auch Kritikergunst zerlegt: „Es regnete durchweg positive Phrasen“, heißt es einmal über einen Roman Elenas, „die sich allerdings oftmals deutlich widersprachen, als hätte jeder für sich ein aus eigenen Vorurteilen konstruiertes Phantombuch heraufbeschworen.“

Literarisch beginnt das Spiegel-Spiel schon zu Beginn. Elena schreibt über ihr Leben, um eine Spur zu Lila zu finden, „da das Wesen unserer Beziehung gebietet, dass ich nur durch den Weg über mich zu ihr gelangen kann“. Und wir folgen ihr durch drei Bände, in denen Elena in den 50er-Jahren in ihrem Viertel, im Rione, aufwächst, sich befreit, Schriftstellerin wird, nach Florenz zieht, heiratet, zwei Töchter bekommt – während die eigentlich begabtere Lila im Sumpf des Rione, der Camorra stecken bleibt, Schuhmacherin wird, ebenfalls heiratet, einen Sohn großzieht, später als frühe Informatikerin Geld verdient.

Zwei Frauen, die um einen Mann ringen

Am Ende des dritten Bandes verlässt Elena ihre gesicherte florentiner Ehe für Jugendliebe Nino (der auch Lilas Gunst genoss). „Die Geschichte des verlorenen Kindes“ beginnt in den 70ern mit dem neuen Glück, das Elena zurück nach Neapel zieht. Beinahe zeitgleich bekommen die Frauen Töchter, kurz darauf zieht Elena in eine Wohnung über Lila – sie hat den Frauenbetörer Nino verlassen, weil auch die emanzipierteste, aufgeklärteste Sicht seine Eskapaden einfach nicht mehr in gutem Licht zeigen wollte. Und Lila? Hat es ja immer schon gesagt. Später wird sich das Motiv der beiden Frauen, die um einen Mann ringen, in ihren Kindern wiederholen: Elenas Töchter Elsa und Dede sind beide in Lilas Sohn Rino verliebt, eine wird mit ihm türmen.

Eine kleine Tragödie im Vergleich zur großen: Denn Lilas junge Tochter Tina verschwindet eines Tages spurlos.

Das weibliche Verschwinden als Metapher

Dieses wiederholte weibliche Verschwinden, das ist auch eine Metapher. Erzählt Ferrante doch von der Unsichtbarkeit der Frauen in einer Machismo-Gesellschaft, vom feministischen Aufbruch der 70er-Jahre, von Elenas trotziger Karriere und ihrer Einsicht, dass auch in Intellektuellen-Kreisen Frauen wie „Ausführhündchen“ behandelt würden und das Begrapschen so üblich ist „wie in den Autobussen hier bei uns“ – #metoo ist noch weit entfernt. Später wird Elenas eigene Tochter spöttisch aus ihren Büchern vorlesen, sich belustigen über die „Bejahrtheit von Ideologien“. Die Kinder fressen die Revolution.

Der Geschlechterkampf ist der eine rote Faden der Saga; hier finden sich Spuren für die These, hinter Elena Ferrante stecke die Christa-Wolf-Übersetzerin Anita Raja. Einer der Gründe dafür, dass die Autorin unter Pseudonym schreibt, könnte der zweite rote Faden sein – die mafiöse Verstrickung und Korruptheit eines ganzen Staates: „Nicht nur der Rione meiner Kindheit war ein von jeder Gnade unberührter Ort, nicht nur Neapel war eine unerlösbare Stadt.“

Fürchtet Elena Ferrane die Mafia?

Als die fiktive Elena in ihrem Rione-Roman die Solara-Brüder zum Vorbild nimmt, wird sie verklagt – und Lila glaubt gar, das Verschwinden ihrer Tochter sei ein Racheakt, wurde Tina doch in einem Zeitungsartikel irrtümlich als Elenas Tochter bezeichnet. Fürchtet „Elena Ferrante“ also die Mafia? Immerhin lebt der neapolitanische Autor Roberto Saviano unter Polizeischutz an geheimen Orten, seit er vor zehn Jahren über die Camorra schrieb.

Und so klingt mehr noch als das etwas melodramatische Ende des Romans ein beiläufiger Satz nach, den Elena Greco über ihre Töchter fallen lässt, die im Ausland studieren: „Ich habe sie alle drei in Sicherheit gebracht.“

Elena Ferrante: Geschichte des verlorenen Kindes. Suhrkamp (614 S., 25 €). Erscheint heute. Das Hörbuch (1025 min. 19,99 €) liest Eva Matthes.

Die Saga geht weiter – im Fernsehen: Der US-Kabelsender HBO und die italienische Rai entwickeln derzeit eine Serie.