Essen. Ein Jahrhundertmusiker, der Inspiration des Moments verschrieben: Pianist Keith Jarrett feiert am 8. Mai den 75. Geburtstag. Eine Würdigung.
In seinen ebenso lesenswerten wie mehrbändig opulenten Lebenserinnerungen „Die Welt, die meine war“ beschreibt der norwegische Pianist und Schriftsteller Ketil Bjørnstad sein musikalisches Initiationserlebnis während eines Miles-Davis-Konzertes in Oslo. Es trug den Namen Keith Jarrett. „Ich sah dabei zu, wie Meister Davis selbst zur Nebenfigur wurde, während Jarrett sich am Fender Rhodes und an der Contempo-Orgel entfaltete, was ihn in ein Symphonieorchester verwandelte. Die klaren Brüche mit den Erwartungen des Jazz. Der Mangel an den gewöhnlichen Quartenharmonik-Tonleitern, mit denen Jazzpianisten auf der ganzen Welt ihre Solos herunterleierten. Stattdessen benutzte Jarrett Sexten und Dreiklänge, bis vor Kurzem vielleicht die größte Ungeheuerlichkeit für einen Jazzmusiker. Ich saß da und starrte mit offenem Mund auf diesen Hysteriker von einem Pianisten …“
Stationen in den Bands des Schlagzeugers Art Blakey und des Saxofonisten Charles Lloyd
Jarrett war 26 in jenem Herbst 1971, als er in Norwegen gastierte und am Tag nach dem beschriebenen Konzert mit Manfred Eicher als Produzent seine erste Solo-CD für ECM einspielte: „Facing You“. Das exquisite Münchner Label war erst knapp drei Jahre alt. Der Pianist aus Pennsylvania, der lange schon auf dem Land in Warren County (New Jersey) lebt, wurde zu einem seiner produktivsten, vielfältigsten und prominentesten Künstler, nachdem er die elektrifizierte Miles-Davis-Allstarformation bald wieder verlassen hatte. Da hatte er schon Stationen in den Bands des Schlagzeugers Art Blakey und des Saxofonisten Charles Lloyd hinter sich.
Sein Trio mit Bassist Gary Peacock und Schlagzeuger Jack DeJohnette ist noch aktiv
Mit ECM hat Jarrett fortan Dutzende CDs eingespielt, die nicht nur Jazzgeschichte schrieben, sondern ihn auch als famosen Interpreten klassischer Musik von Bach bis Pärt, Mozart bis Schostakowitsch präsentierten. Sein Standardtrio mit Bassist Gary Peacock und Schlagzeuger Jack DeJohnette ist immer noch aktiv, sein amerikanisches Quartett mit Charlie Haden, Paul Motian und Dewey Redman und sein europäisches mit Jan Garbarek waren in den Siebzigern ikonografische Institutionen. Und durch die Jahre ziehen sich die Pianosoloauftritte, die weltweit ohne Vergleich sind, weil kein Pianist sonst so komplett auf vorgefertigtes oder auch nur sich wiederholendes Material verzichtet und sich der Inspiration des Moments aussetzt. Dazu braucht der dünnhäutige, bei solchen Auftritten einsam sich selbst überlassene Künstler ideale Orte und Bedingungen wie in den edlen Sälen in Bregenz, Bremen, Florenz, Kyoto, Lausanne, London, Mailand, New York, Osaka, Paris, Rio, Tokio, Toronto, Venedig oder Wien, die oft seinen Live-Aufnahmen die Titel gaben. Auch In Essen war Jarrett zu Gast, etwa 2007 beim Klavierfestival Ruhr.
Am 24. Januar 1975 entstand in der Kölner Oper seine erfolgreichste Solo-CD
Köln bezeichnet Jarrett im Rückblick als keinen so idealen Ort. Der Flügel war unzureichend, er trat übermüdet auf, das Essen vorher war nicht gut und überhaupt würde er mit heutigem Wissen sehr vieles anders machen. Sehr viele sahen das anders: Am 24. Januar 1975 entstand in der Kölner Oper nicht nur seine erfolgreichste Solo-CD, sondern die des Jazz schlechthin. Ein Tag, den man in der Jarrett-Biografie fast so historisch nennen könnte wie jenen, an dem der Pianist Jarrett heute vor 75 Jahren in Allentown, Pennsylvania zu Welt kam. Dass gleichzeitig das deutsche Nazi-Reich vor den Alliierten kapitulierte, muss man dagegen einen unzeitgemäßen Zufall nennen.
Im Jubiläumsjahr erscheint eine neue Jarrett-Solo-CD, aufgenommen in München
Auch München, der Sitz von ECM, gehört in die Reihe seiner Aufnahmeorte. Im Juni 1981 ist hier im Herkulessaal der Residenz einer seiner schlüssigsten Auftritte dokumentiert worden. Es ist nur folgerichtig, wenn die im Jubiläumsjahr erschienene neue Jarrett-Solo-CD wieder in der bayerischen Hauptstadt aufgenommen wurde. Dieses imponierende Dokument entstand 2016 in der Philharmonie im Gasteig und ist das gegenwartsnächste des Piano-Giganten. Zwölf freie Teile und ein Block mit drei Standards als Zugaben, am Schluss eine schlicht sensationelle und anrührende Fassung von „Somewhere Over The Rainbow“. Alles ist da, was den Kosmos dieses Jahrhundertmusikers ausmacht: lyrische Kontemplation und Attacke, Groove und Schwelgen, weit ausholende Bögen und punktgenaue Landungen, eingängige Motive und verblüffende Wendungen weg davon, Harschheit und Sensibilität – und alles ohne das Netz und den doppelten Boden herbeizitierter Versatzstücke.