Essen. In unserer Buchempfehlungs-Serie „Freunde für die Krise“ stellen wir heute Romane vor, die genau das tun, was wir sein lassen sollen: rausgehen!

Eine unserer größten Verzichtleistungen in der Corona-Zeit betrifft das Reisen. Wir haben die menschliche Welt-Expedition allerdings nicht selten durch Tourismus ersetzt. Ohnehin sind die Reisen, die man im Kopf unternimmt, nicht nur die ungefährlichsten, sondern oft auch spannender als alles Abklappern von Sehenswürdigkeiten. Hier unsere Empfehlungen für die Krise:

Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 (Johann G. Seume)

Seumes Zeitgenosse Goethe fuhr natürlich in der Kutsche nach Italien, genau wie sein Vater Johann Caspar. Die Italienreise war damals ja so etwas wie das Hurtigruten-Boot heutiger Tage – immer noch ein bisschen exotisch, aber nur für gut Betuchte. Johann Gottfried Seume (1763-1810), von dem der fatal irrende Gedichtvers „Wo man singt da lass dich nieder“ stammt, wurde vom hessischen Landgrafen als Kanonenfutter an die Engländer verkauft und musste im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf der falschen Seite mitkämpfen. Als er wieder daheim war, machte er sich zu Fuß auf den Weg von Leipzig nach Sizilien, „man sieht im Gehen anthropologisch mehr“, sagte er. Und Seume guckt genau hin, im Staub der Straße, der Gosse, der Boulevards. Er leitet, das liest man heute auch wieder anders, Gemütslage und Arbeitsweise der Menschen vom Klima ab. Forschen zu Fuß. Und mein Exemplar von 1985 ist eines der letzten mit Bleisatz, die ich gekauft habe. Man streicht beim Umblättern doch anders über die Seiten...

Herz der Finsternis (Joseph Conrad)

Auf dem Cover meiner „Herz der Finsternis“-Ausgabe sind schwarze Lastenträger zu sehen. Die Männer schlagen mit ihren Macheten zwei tropenbehelmten Weißen einen Weg durch das Dickicht. So stellte sich der Illustrator wohl eine historische Expedition durch den afrikanischen Dschungel vor – und das, obwohl Joseph Conrad in seinem Buch an keiner Stelle schreibt, dass sich dieses „Herz der Finsternis“ tatsächlich in Afrika befindet.

Als Conrad 1899 seine Erzählung fertig aufgeschrieben hatte, sah er darin zunächst „eine wilde Geschichte über einen Journalisten, der eine Handelsstation leiten soll und sich von einem Stamm Wilder verehren lässt“. Das trifft es zwar, greift aber viel zu kurz. Conrads Buch ist eine Abrechnung mit dem Kolonialismus der Europäer, und vermittelt die Einsicht, dass die Finsternis des Titels nicht in fernen Ländern entsteht, sondern von den Entdeckern, die das Licht versprechen, überhaupt erst dorthin gebracht wird.

On the Road (Jack Kerouac)

Jack Kerouacs Roman, geschrieben in nur drei Wochen, war 1957 schon in seiner gezähmten, geglätteten Version ein Schocker. 2010 erschien endlich die Urfassung auf Deutsch, übersetzt von Ulrich Blumenbach, so ungeschönt, wie Kerouac sie einst herausschrie. „Mit Neals Auftauchen begann so richtig der Teil meines Lebens, den man mein Leben auf der Straße nennen kann“: So beginnt Sals Bericht eines Roadtrips quer durch Amerika, ein Fest der Freiheit und des Gegenentwurfs.

Traumpfade (Bruce Chatwin)

„The Shonglines“, wie es im Original von 1987 heißt, ist so ein Buch, das einem die Reise nach Australien ersparen kann. Es sei denn, man fährt für eine Operninszenierung hin. Ich habe von Chatwin alles über australische Geschichte und Landschaft gelernt, was ich wissen muss, über die ganz andere Raum- und Ortswahrnehmung der Aboriginies und wie modernes Bauen ganz allmählich eine Kultur zerstören kann. Das Tollste ist der Schluss, in dem Chatwin mit Notizen von anderen Reisen die Theorie entwickelt, dass das Unglück des Menschen, der fürs Nomadentum gemacht ist, aus dem Sesshaftwerden rührt, die Entwicklung von Eigentum genau wie die von systematischen Kriegen.

Das Buch von Eden (Kai Meyer)

Die Novizin Favola hütet die letzte Pflanze des Gartens Eden, aus der ein neues Paradies geschaffen werden könnte. Mit dem „Buch von Eden“ hat Kai Meyer 2004 ein Epos über die Suche nach Erlösung vorgelegt. Knapp 1000 Seiten garantieren eine atemberaubende Reise von der Eifel bis ins Morgenland. Mit großer Kunst konstruiert Kai Meyer eine Parallelhandlung, eine doppelte Verfolgungsjagd um die Deutungshoheit über das jeweilige Paradies. Selbst abgebrühte Leser staunen über die Vielzahl der überraschenden Wendungen. Was die Helden nicht erkennen: Das wahre Eden haben sie am Ende vor Augen, die historische Bibliothek von Bagdad als Sinnbild für Erlösung durch Wissen und das Streben nach Erkenntnis. Doch dieses Eden geht vor den Augen der Reisenden in Flammen auf. Ein Roadmovie als Kopfkino über Sinnsuche und darüber, dass man manche Ziele besser umgeht.

Caesar (Gisbert Haefs)

Eine historische Biographie als Reiseroman? Bei Gisbert Haefs ist so etwas möglich. Der große Gelehrte und Geschichtenerzähler vom Rhein schildert Aufstieg und Fall des römischen Herrschers Julius Caesar aus der Perspektive der Untertanen, des Feldkochs Quintus Aurelius, der im Dienste des Juliers als Doppelspion die Feldzüge in Gallien mitmacht, der nach Ägypten und nach Troja mal reist und mal flieht. Mit ihm entdeckt und bestaunt der Leser die Wunder und Schrecken der Oikumene, also der ganzen bewohnten Welt, soweit sie damals bekannt ist. „Cäsar“ ist ein Buch über schmutzige Politik, es erzählt von gemeinen, skrupellosen Menschen, die Macht wollen und Geld. Zwischen ihren Intrigen muss das Fußvolk wie Quintus Aurelius irgendwie überleben. Dass man in diesem Roman mit Leichtigkeit Sachverhalte lernt, die einem im Geschichtsunterricht partout nicht in den Kopf wollten – geschenkt. Gisbert Haefs hat mit „Caesar“ die vermutlich beste literarisch-historische Biographie auf dem ganzen Buchmarkt geschrieben, die sich auch noch wie ein Krimi liest.

1Q84 (Haruki Murakami)

Der Japaner Haruki Murakami ist ein literarischer Popstar und zugleich immer wieder heißer Tipp für den Literaturnobelpreis. Auch seine Romane bewegen sich in zwei Welten: Hier die sehr gegenwärtigen, meist männlichen jungen Helden vom Typ einsamer Wolf, dort die dem Unterbewusstsein entsprungene, poetische Gegenwelt. Im ziegelsteindicken, dreiteiligen Romanwerk „1Q84“ begleiten wir Aomame und Tengo, die als ewige Außenseiter seit Kindertagen befreundet sind und auf je eigene Weise in die Parallelwelt der zwei Monde geraten. Und wir Leser – gebannt, gefesselt, eingesponnen – tauchen mit ihnen ins Surreale ab.