Essen. Krimi des Monats: Xavier-Marie Bonnots Krimi „Der erste Mensch“ ist originell erdacht, aber nicht ohne Schwächen. Bonnot packt vieles in ein Buch.
Marseille, im Sommer 2010. Kurz vor dem ersehnten Ruhestand hat man Hauptkommissar de Palma noch einen besonders rätselhaften Fall aufgehalst. Der führt ihn (und uns) zurück ins Jahr 1970, zu einer archäologischen Grabung in der Hohen Provence und dann in die Tiefen der Zeit wie des Meeres. Weitgehend mit Wasser gefüllt, vierzig Meter tief und vom Ufer aus nicht zugänglich, liegt da eine Schatzkammer voll urgeschichtlicher Wandmalereien, 17.000 Jahre alt oder auch mehr. (Die Details sind exakt von der realen „Grotte Cosquer“ in einer der felsigen Küstenschluchten bei Marseille übernommen. Näheres in der französischen Wikipedia.)
Im Roman heißt sie die „Le-Guen-Höhle“, und dort ist nun ein erfahrener Forschungstaucher gewaltsam zu Tode gekommen. Nicht nur der Kommissar steht vor einem Rätsel. Die verwinkelte Höhle wird zum Zentrum eines ähnlichen Labyrinths von Orten, Figuren und Ereignissen, in dem der Autor Xavier-Marie Bonnot uns lange ziemlich allein lässt. Dann richtet sich der Verdacht auf Thomas Autran, den Sohn eines Archäologen von 1970. Seit seiner Kindheit psychisch schwer geschädigt, ist er als grausamer Serienmörder und hoffnungsloser Fall durch Zwangsanstalten in ganz Frankreich gewandert. Seine Lebens- und Leidensgeschichte wird als eigene Erzählung präsentiert und erst spät mit de Palmas Ermittlungen zusammengeführt.
Der „verrückte Wissenschaftler“ und die Antipsychiatrie
Autrans Zwillingsschwester Christine, renommierte Professorin für Ur- und Frühgeschichte, war als Mittäterin im Gefängnis, wird aber kurz nach ihrer Entlassung ermordet. Auch ein obskurer Art und Psychiater (Typus „mad scientist“) hat seine Finger in Spiel, er hatte Thomas schon als Kind mit den seltsamsten Prozeduren gequält.
Dies alles dient den Aufbau von Spannung, aber mehr noch dem Ehrgeiz des Autors, der Frühgeschichte und Archäologie, den Mythos der „Urmenschen“ und die Geschichte der Psychiatrie samt „Antipsychiatrie“ – in Frankreich seit den 70er-Jahren besonders intensiv diskutiert – in seine Story integrieren will, Zitate der einschlägigen Theoretiker von C. G. Jung bis Michel Foucault inklusive. Erst als der Kommissar bald verzweifelt und sich immer öfter in seine geliebte, meist dunkel-dramatische Opernmusik flüchtet, hat der Autor ein Einsehen, schlägt den immer blutiger gewordenen Knoten durch, was nicht ohne weiteres Blutvergießen in und außerhalb der Wasserhöhle abgeht, und spendiert dem Kommissar und seiner Lebensgefährtin Eva sogar ein bescheidenes Happy End.
Originell, aber nicht atmosphärisch
Man kann diesen Roman, den vierten in Bonnots Reihe mit Kommissar de Palma, für seine couragierte Originalität loben. Aber die disparaten Teile fügen sich nicht recht zu einem Ganzen und können auch atmosphärisch kaum überzeugen, anders als Jan Costin Wagners Krimi-Rückkehr nach Deutschland.
Vielleicht sollte man Jean-Claude Izzo wieder rauskramen
Unwillkürlich erinnert man sich da an die fulminante „Marseille-Trilogie“ von Jean-Claude Izzo, die vor zwanzig Jahren diese faszinierende, in jedem Sinne gewaltige Stadt auf die Krimilandkarte gesetzt hat.
Vielleicht sollte man die alten Bände doch wieder mal hervorkramen.
Xavier-Marie Bonnot: Der erste Mensch. Kriminalroman, Unionsverlag, 375 Seiten, 19 €.