Essen. Mit Jan Costin Wagners neuem Krimi „Sommer bei Nacht“, der nach Erscheinen auf Platz 1 der Krimi-Bestenliste schoss, dürfte eine Serie beginnen.

Nach längerer Zeit hat wieder einmal – erfreulicher Weise – ein deutscher Autor den Spitzenplatz der Krimi-Bestenliste erobert. Das ist keine Überraschung: Jan Costin Wagner, zur mittleren Generation gehörend, hat sich bereits mit einer ganzen Reihe von psychologisch vertieften und zugleich „poetischen“ Kriminalromanen einen Namen gemacht.

Die spielten zumeist in Finnland, wo der Autor zeitweilig gelebt hat. Nun aber kehrt er in seine Heimatregion zurück. Der neue Fall beginnt in Wiesbaden, führt nach Frankfurt (wo Wagner studiert hat), kurz nach Berlin und Innsbruck.

Die Dramaturgie könnte aus einem „Tatort“ stammen

Es geht um einen verschwundenen, vermutlich entführten oder gar schon toten kleinen Jungen. Mit einem großen Teddybär im Arm war Jannis, an der Hand eines unauffälligen Mannes, auf dem Flohmarkt der Mama entwischt und bleibt tagelang verschwunden.

Die Ausgangssituation und die weitere Dramaturgie des Falls ist also bedrückend, aber keineswegs originell oder sensationell, sie könnte durchaus aus einem „Tatort“ stammen – bis hin zur zugleich erhofften, erwartbaren und dann doch überraschenden Schlusswendung.

Menschen in Extremsituationen

Nun hatte Wagner schon immer sein eigenes Krimikonzept: Er will verstehen und zeigen, „wie Menschen Extremsituationen erleben und bewältigen“ (oder eben auch nicht). Und nichts, sagt er im Interview, „schafft die Extremsituation so unmittelbar wie das Verbrechen, für die Opfer, die Ermittler, die Täter“.

Um das anschaulich zu machen hat Wagner eine Art Facetten-Technik entwickelt, indem er kurze Erzählabschnitte jeweils den verschiedenen Personen, auch dem Opfer und den Tätern, zuordnet. In diesem Fall nähert sich seine Erzählung streckenweise dem Stil einer Reportage oder einer Art von Protokoll, das poetische Element, das in früheren Bänden sogar das Phantastische streifte, tritt diesmal deutlich in den Hintergrund.

Die Kommissare: Ben Neven und Christian Sandner

Denn es geht vor allem um die befreundeten jüngeren Kommissare Ben Neven und Christian Sandner, die täglich professionell und ohne ernsthafte Konflikte miteinander arbeiten. Aber jeder von ihnen schleppt auch für sich allein einen Rucksack von Problemen mit sich. Ben, Ehemann und Vater einer Tochter, muss sich – in diesem Fall von Kindesentführung und -missbrauch besonders brisant – mit seiner unterschwellig pädophilen Neigung auseinandersetzen. Christian, der als Single lebt, findet am Ende des Romans zumindest die Gelegenheit, sich von einer lang zurückliegenden Traumatisierung zu entlasten. Beide Themen sind aber – das wird ziemlich deutlich – damit nicht ausgeschrieben, noch nicht in eine „Extremsituation“ geführt. Wir dürfen also wohl auf eine ganze Serie gespannt sein.

Jan Costin Wagner: Sommer bei Nacht. Roman. Galiani Berlin, 313 S., 20 €