Essen. Die Dauer-Isolation in der Corona-Krise drängt uns zu Grundsatz-Entscheidungen. Können wir Menschenleben riskieren, um die Wirtschaft am Laufen zu halten?

Der irische Schriftsteller Jonathan Swift veröffentlichte 1729, als er gerade Ehrenbürger von Dublin geworden war, ein Traktat unter dem Titel „Ein bescheidener Vorschlag im Sinne von Nationalökonomen, wie Kinder armer Leute zum Wohle des Staates am Besten benutzt werden können“; darin entwickelt Swift aus Mitleid heraus den Gedanken, dass man die Armut beseitigen könnte, indem man Babys und Kleinkinder der Armen kurzerhand verspeist. Die Armen hätten damit Einnahmen vom Metzger und weniger hungrige Mäuler zu stopfen; außerdem könnte man auf diese Weise auch die Zahl der Abtreibungen senken.

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Seinen „Modest Proposal“ ließ Swift allerdings anonym erscheinen, zumal er Sorge hatte, seine Satire könnte ernst genommen werden. Das ist der entscheidende Unterschied zum Vorschlag des texanischen Vize-Gouverneurs Dan Patrick, die strikten Isolierungsmaßnahmen zur Corona-Eindämmung zu lockern, um den wirtschaftlichen Schaden der Pandemie zu begrenzen und im Zweifel ältere Menschen sterben zu lassen, damit ihre jüngeren Nachkommen weiter im Wohlstand leben könnten. Immerhin erklärte der 69-jährige Patrick, im Zweifel auch selbst bereit zu sein, sich anstecken zu lassen.

Diskussion Alte gegen Junge rollt auf uns zu in Corona-Krise

Noch ist die vom Corona-Virus bedrohte Welt im Erste-Hilfe-Modus; aber es mehren sich die Stimmen derer, die von der Sorge getrieben sind, dass die wirtschaftlichen Folgen durch den weitgehenden Stillstand des öffentlichen Lebens in eine Unzahl von Firmenpleiten und eine weltweite Verarmung ganzer Volkswirtschaften münden könnten. Es rollt also nicht nur eine Diskussion nach dem Schema Alte gegen Junge auf uns zu, sondern eine, die Entscheidungen darüber verlangt, ob und wie lange die Eindämmung von Lebensgefahr denn wichtiger ist als die Erhaltung des Wohlstands. Vor wenigen Wochen noch wäre das eine höchst theoretische Frage gewesen, heute stellt sie sich jeden Tag mehr mit existenzieller Dringlichkeit.

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Grundsätzlich wäre Dan Patricks Vorschlag leicht zu beantworten mit dem ersten Artikel der besten Verfassung auf Erden: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das bedeutet: Jeder Mensch, ob jung oder alt, ob gesund oder krank, ist gleich viel wert. Alles andere entwürdigt Menschen zu bloßen Gegenständen. Wie das, auf die kannibalistische Spitze getrieben, schon der „bescheidene Vorschlag“ von Swift tat. Er karikierte damit die Tendenz seiner frühkapitalistischen Zeit, Menschen als Material zu betrachten, wie sie im Sklavenhandel ihren brutalsten Ausdruck fand.

In Krisensituationen kommt es nicht auf Feinheiten an

Heute hat es die Wirtschaft längst zu einer Mischung aus goldenem Kalb und Heiliger Kuh gebracht, um deretwillen offenbar inzwischen auch wieder Menschenopfer denkbar sind. Oder eine Nummer kleiner: Erinnern Sie sich noch an die vorwurfsvolle Feststellung der „Wirtschaftweisen“, es gebe ein Ungleichgewicht in Deutschland, weil da ein immenser Außenhandelsüberschuss sei, aber der Binnenkonsum zu wünschen übrig lasse, was wohl auf die Dauer kaum gutgehen könne. Es ging fast ein Jahrzehnt lang gut, aber als Verbraucher fühlte man sich durch das Mantra der Wirtschaftsforscher lange höchst persönlich schuldig, zu wenig für die Binnenkonjunktur getan zu haben.

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Nein, wem die Angst vor coronaren Wirtschaftserkrankungen nicht schon den Verstand vernebelt hat, weiß noch eine Antwort auf die Frage, ob die Wirtschaft für den Menschen da ist oder der Mensch für die Wirtschaft. Ja, es sind Menschen, die in der Wirtschaft arbeiten, die in ihr ein Ein- und Auskommen erzielen. Und deshalb, nur deshalb haben sie ein Interesse daran, dass es der Wirtschaft gut geht – was ihnen allerdings egal ist, wenn sie tot sind. Und sterben, das wissen wir mittlerweile, kann jeder an dieser Infektion, auch der durchtrainierte 22-Jährige ohne jede Vorerkrankung.

Zu einfach? Ja, aber das Grundgesetz ist es in seinen besten Passagen auch, und in Krisensituationen kommt es nicht auf Feinheiten an, sondern darauf, Prioritäten zu setzen.

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Von Tim Braune, Julia Emmrich, Jochen Gaugele und Christian Kerl

Wir sollten uns aber, so schwer das im Moment fällt, vor den vorschnellen, allzu einfachen Einordnungen noch mehr hüten als vor der Ansteckung mit dem Virus. So wäre selbstverständlich eine „kontrollierte Infektion“ weiter Teile der Bevölkerung eine Alternative zur weitgehenden Isolation. Wenn denn gewährleistet wäre, dass eine durchgemachte Corona-Erkrankung wirklich zur Immunität führt; wenn nicht auch Jüngere, die von der Wirtschaft ja mehr als alle anderen noch gebraucht werden, von der tödlichen Gefahr bedroht wären; und wenn es vor allem genügend Intensiv-Betten in unseren Krankenhäusern gäbe, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten von Einrichtungen zur Daseinsvorsorge zu Goldeseln für Aktiengesellschaften, Fonds und Investoren gewandelt haben.

Wann haben wir genug für den Gesundheitsschutz getan?

Wohlgemerkt: Der Blick in den Abgrund eines wirtschaftlichen Abstiegs ohnegleichen ist nicht unrealistisch. Er sollte aber nicht dazu verleiten, die Ethik, die Grundwerte einer humanen, sozialen Demokratie völlig zu ignorieren.

Die entscheidende Frage wird bald sein: Wann haben wir genug für den Gesundheitsschutz getan? Wann wären die Schäden, die eine weitere Stilllegung des Wirtschaftslebens anrichtet, unverhältnismäßig im Vergleich zum Gewinn in Sachen Gesundheit? Zumal ja auch die Isolation etwa durch Lagerkoller und häusliche Gewalt gesundheitsgefährdend sein kann. Und weil ja auch ein wirtschaftlicher Abschwung diverse Gesundheitsrisiken mit sich bringt. Steigende Massen-Arbeitslosigkeit würde nicht nur vermehrte Armut mit sich bringen, sondern auch Depressionen, Alkohol und Drogen, ungesunde Ernährung...

Wir reden über Wahrscheinlichkeiten

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Wir werden ein definitives Ende der Epidemie so schnell nicht erreichen, es sei denn, es gelingt der überraschende Fund eines Impfstoffs binnen weniger Tage. Aber irgendwann wird die Rate der Neuansteckungen ihren Höhepunkt erreicht haben, und kurze Zeit darauf wird es an der Zeit sein, die strengen Isolationsvorschriften zu lockern und gezielt die Risikogruppen zu schützen.

Im hoffentlich baldigen Abklingen einer Pandemie wie dieser reden wir nicht darüber, dass dieser Mensch stirbt und jener nicht, wir reden dann über Wahrscheinlichkeiten. Über Risiken. Und wir werden nicht warten können, bis das Ansteckungsrisiko für alle bei Null liegt. Aber wir müssen Augenmaß walten lassen statt Panik, in der einen wie der anderen Richtung.

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