Essen. . Caroline Link verfilmt Kerkelings Autobiografie „Der Junge muss an die frische Luft“: anrührend tragikomisch und (fast immer) echtes Ruhrgebiet.
Hat die Welt uns so geprägt, dass wir schlimme Geschichten reflexartig zu einem Märchen erklären, weil sie gut ausgehen? Aber die des Hans-Peter Kerkeling aus Recklinghausen ist erst schlimm und dann gut – und sehr wahr. Der Magnet eines sich vor Lachen ausschüttenden Millionenpublikums hat sie vor ein paar Jahren auf so beiläufige wie erschütternde Weise erzählt. „Ich bin die Trümmer des Krieges, der in meiner Mutter gewütet hat“, schrieb Kerkeling in seiner Autobiografie und verschonte unsere Spaßgesellschaft nicht damit, „die Geschichte einer verlorenen Kindheit“ anzuhören.
Filous und Kittelschürzen
Das geschah 2014 mit „Der Junge muss an die frische Luft“. Der muntere Titel war nur die halbe Wahrheit: Kerkelings hemdsärmeliger Kosmos aus Filous und Fleißigen, Kittelschürzen und Kolonialwarenläden siedelte um eine Katastrophe. Eines Tages wird Hans-Peters Mutter ihm erlauben, so lange fernzusehen, wie er will. Währenddessen nimmt sich die Depressive das Leben. Das Kind findet sie sterbend nach Sendeschluss, ein Junge von neun Jahren.
So ist das Buch und mehr noch Caroline Links Film, dessen Skript allein die Kinderzeit Kerkelings in Herten-Scherlebeck und Recklinghausen herausschält, die Wahrheit über den Anfang von Horst Schlämmer, der falschen Beatrix, von Hannilein und Hurz. Humor: ein Über-Lebensmittel.
Wo leicht die Stunde des Voyeurismus schlagen könnte, gewinnt der Film (wie die Vorlage) uns ohne Anstrengung für Empathie. Es ist schwer, außen vor zu bleiben. Zuschauer ab 50 werden selbst bei besten Vorsätzen ihre Distanz verlieren. Die ausstatterische Wucht, in der diese Tragikomödie mit Wohnküchenduft und Tütenlampenschein, Mettigel und Buttercremetorte wuchert, ist eine brillant funktionierende Zeitmaschine. Sie katapultiert uns in eine Welt, die untergegangen scheint: Kleinbürger, die ihr alles andere als sorgenfreies Dasein als Familien-Bund der Unerschütterlichen gestalten? Die Schauspieler gehen in dieser Milieustudie der 60er/70er-Jahre in unverbrauchter Natürlichkeit auf. Caroline Link hat perfekt besetzt, clever auf die allgegenwärtigen Thalbachs und Noethens verzichtet. Sie fehlen dem Film nicht.
Großmütter als Trutzburgen
Schon an Hapes Großmüttern kann man sich kaum sattsehen. Hedi Kriegeskottes Oma Änne ist eine Resolute mit Herz, Kämpferin, Pott-Verrücktheit und zu Karneval ein Pirat, der sich schützend vor Hans-Peter stellt, als der Prinzessin sein will. Ursula Werners Oma Bertha ist eine überwältigende Trutzburg in Kittelschürze, Joachim Króls Opa ein rauer, grundgütiger Alm-Öhi von der Emscher.
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Als Darstellerwunder feierten sie schon im Vorfeld Julius Weckauf. Er ist das dicke Kind, das Hans-Peter vor dem großen Entertainer war. Es gedieh wundersam – wie Link feinfühlig erzählt – auf einer Hefe aus Traurigkeit und Fantasie, aus munter akzeptiertem Außenseitertum und früher Lust am Fummel. Dieser Weckauf beherrscht – beispielhaft auf der Trauerfeier für die Mutter – ein stilles Spiel von bezwingender Kraft, mobilisiert aber nicht weniger grandios die kleine Rampensau im Familienkreis. Freilich: Zuschauer von Duisburg-Hamborn bis Dortmund-Hörde werden stolpern darüber, dass der kleine Kerkeling deftiges Rheinisch spricht. Weckauf kommt aus Jüchen.
Der Film ist gut, ohne Schwächen ist er nicht. Das Episodische, von Link extrem zugespitzt, lässt vor allem im Anfang manches Ereignis unmotiviert passieren. Und ästhetische Überlasten gibt es auch: Die üppige Bildsprache von Judith Kaufmanns Kamera ist so souverän in ihrer Liebe zur Lebenslust wie zum Schmerz dieser kleinen Leute, dass Niki Reisers fast jede Szene aufdringlich kommentierende Spieluhren-Musik den Film Kitschgestaden zutreibt. Eine Musik, die übrigens Rachel Portmans „Chocolat“-Sound dreist ähnelt.
Gleichviel: Mit „Der Junge muss an die frische Luft“ haben die Deutschen einen warmherzigen NachWeihnachtsfilm. Er macht Mut, er schämt sich nicht, sentimental zu sein. Er lässt uns ein bisschen stolz sein auf die Typen von hier und viele Male lachen – auch wegen seiner zentralen Wahrheit: Dass mit den Tränen die Clowns kommen, hat der deutsche Film lange nicht so unverblümt zu erzählen verstanden.